archivierte Ausgabe 2/2012 |
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Herausgeber und Redaktion |
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JOACHIM HAKE Direktor der Katholische Akademie in Berlin e.V. |
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URSULA SCHUMACHER
Professorin für Dogmatik an der Universität Luzern |
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JAN-HEINER TÜCK Professor für dog-
matische Theologie, Universität Wien |
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Herausgeber und Redaktionsbeirat stellen sich vor. |
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Lesermeinung von |
Anton Svoboda,
Dipl.-Theologe, Musiker
Lesen Sie hier |
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Christoph Benke |
GOTT IM ANTLITZ DES ANDEREN |
Christian de Chergé und Pierre Claverie als Zeugen für Christus im muslimischen Algerien |
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1. Hinführung
«Die Fußwaschung, der geteilte Kelch und das geteilte Brot, das Kreuz … ein einziges Gebot der Liebe, ein einziges ZEUGNIS. Hier haben wir das Zeugnis Jesu, sein ‹testamentum›, auf Griechisch ‹martyrion›, das ‹Martyrium› Jesu.» Mit diesen Worten beginnt die Homilie zum Gründonnerstag, die Christian de Chergé, Prior des Trappistenklosters «Notre Dame de l’Atlas» in Tibhirine (Algerien), am 31. März 1994 hielt. Dass die liturgische Feier des österlichen Triduums den eigenen Weg vorzeichnen sollte, mussten P. Christian und die übrigen Mönche des Atlasklosters längst annehmen, spätestens seit dem bewaffneten Überfall fundamentalistischer Islamisten am Heiligen Abend 1993. Bis heute ist ungeklärt, unter welchen Umständen die Mönche von Tibhirine nach ihrer Entführung am 27. März 1996 ums Leben kamen. Als Todestag gilt der 21. Mai. Um die Verantwortung zu klären und die politischen Hintergründe aufzudecken, ist eine Untersuchungskommission eingerichtet. Durch den Film Des hommes et des dieux von Xavier Beauvois («Von Menschen und Göttern»; Oscar-Nominierung 2011 als «bester fremdsprachiger Film»; Großer Preis der Jury bei den 63. Filmfestspielen von Cannes) erreichte das Zeugnis der Trappisten ein Millionenpublikum.
Neben Christian de Chergé ist Pierre Claverie, der Bischof von Oran, ein prominenter Blut-Zeuge der jüngsten Vergangenheit. Sie stehen für die übrigen, hier ungenannten christlichen Opfer islamistischen Terrors in Algerien. Gemeinsam war ihnen die Herausforderung, als unbedeutende Minderheit in nicht- oder entchristlichtem Umfeld zu leben. Diese Frage steht auch anderorts im Raum: Wie ist anderen Religionen in rechter Weise zu begegnen? Wie hat das Zeugnis der Christen auszusehen, inmitten glaubensloser oder glaubensfremder Mitmenschen? Die Antwort der algerischen Blutzeugen ist eine Anfrage an das Selbstverständnis europäischer Christen. Wir beschränken uns im Folgenden auf die beiden im Titel Genannten. Es würde den Umfang dieses Beitrags sprengen, etwa die Tagebuchaufzeichnungen und Gedichte eines anderen getöteten Mönches, des intellektuell und poetisch hochbegabten P. Christoph Lebreton, oder die Briefe von Bruder Luc, des Arztes, beizuziehen.
Christian de Chergé (1937-1996), Prior von Tibhirine
Christians Berufung, Priestermönch in Algerien zu werden, lagen zwei Erfahrungen zugrunde. Als zweitältestes von 8 Kindern verbrachte er einen Teil seiner Kindheit in Algerien, nachdem sein Vater als General der Artillerie dorthin dienstversetzt wurde. Seine Mutter lehrte ihn Respekt vor den Muslimen und deren Glaubenspraxis. Wieder in Frankreich erhielt Christian Impulse aus der Pfadfinderbewegung. Nach dem Abitur, einem abgebrochenen Psychologie- und Philosophiestudium an der Sorbonne sowie einem – bereits als Seminarist der Karmeliten – begonnenen Theologiestudium am Institut Catholique kehrte Christian unter den Vorzeichen des Krieges als Offizier einer administrativen Spezialeinheit nach Algerien zurück (Juli 1959 bis Januar 1961). In diese Zeit fällt das zweite Schlüsselerlebnis: Ein befreundeter muslimischer Feldhüter rettet ihm, dem Christen, das Leben. Nach der Priesterweihe 1964 diente er fünf Jahre als Kaplan in Paris, um dann die Freigabe seines Bischofs für ein monastisches Leben zu erbitten. Die weiteren Stationen: 1969 Noviziat der Trappisten in Aiguebelle, 1971 Wechsel ins algerische Kloster Tibhirine, 1972-1974 Studien am Päpstlichen Institut für Arabische und Islamische Studien (PISAI) in Rom, 1974 Rückkehr nach Tibhirine.
In das Jahr 1975 fällt Christians dritte spirituelle Erfahrung mit dem Islam: Ein muslimischer Gast des Klosters bittet ihn, für ihn und mit ihm zu beten, nacheinander und miteinander. Immer tiefer sieht Christian die Aufgabe, die Berufung der Christen in einem muslimischen Land zu sondieren. Zeitlebens bleibt er fasziniert von der Frage nach dem Ort des Islam im Plan Gottes. Christian betrieb diese Anliegen im Ribât es-Salâm («Band des Friedens»), einer von Claude Rault, einem Weißen Vater gegründeten Gesprächs- und Gebetsgruppe von Christen und Muslimen sufistischer Richtung. Hier ging es weniger darum, über Glaubensfragen zu sprechen, als gemeinsam vor Gott da zu sein in Schweigen und Beten. Zwischen 1994- 1996 wurden vier Mitglieder der Vereinigung ermordet. Umgeben von einem Klima der Gewalt versammelten sich am 25. März 1996 die Mitglieder des Ribât in Tibhirine zum Thema «O Gott, du bist meine Hoffnung auf dem Antlitz aller Lebenden.» In der Nacht vom 26. zum 27. März (um zwei Uhr) entführten die Männer vom GIA sieben Mönche. Alles Weitere liegt im Dunkel. Am 23. Mai wurde die Hinrichtung bekannt. Nach der Trauerfeier für die Ermordeten am 2. Juni in Algier wurde das, was von Christian und seinen Mitbrüdern gefunden wurde, auf dem Klosterfriedhof in Tibhirine beigesetzt. An Christian beeindruckt die Einheit von Person und Zeugnis. Deshalb ist schon an dieser Stelle sein Testament zu zitieren:
«Wenn ein ‹Hin-zu-Gott› ins Gesichtsfeld tritt ...
Wenn es mir eines Tages widerführe – und das könnte heute sein –, Opfer des Terrorismus zu werden, der jetzt anscheinend alle in Algerien lebenden Fremden mit-betreffen will, so möchte ich, dass meine Gemeinschaft, meine Kirche, meine Familie sich daran erinnern, dass mein Leben Gott und diesem Land HINGEGEBEN war. Sie mögen innerlich zustimmen, dass der einzige Meister allen Lebens einem solchen brutalen Abschied nicht fremd sein kann.
Sie mögen beten für mich: Wie könnte ich sonst einer solchen Opferhingabe würdig sein? Sie mögen diesen Tod in die Reihe so vieler anderer ebenso gewalttätiger Tode einfügen, die in der Gleichgültigkeit der Anonymität bleiben. Mein Leben hat nicht mehr Wert als ein anderes. Allerdings auch nicht weniger. Jedenfalls hat es nicht mehr die Unschuld der Kindheit. Ich habe lange genug gelebt, um zu wissen, dass ich mitschuldig bin am Bösen, das, leider, in der Welt überhand zu nehmen scheint, selbst an jenem Bösen, das mich blind treffen könnte. Ich hätte gerne, wenn es soweit ist, eine kurze Frist der Hellsichtigkeit, die mir erlauben würde, das Verzeihen Gottes und das meiner Brüder in der Mitmenschlichkeit zu erbitten, und desgleichen auch, um von ganzem Herzen jenem zu verzeihen, der mich heimsuchen wird. Ich kann einen solchen Tod nicht herbeiwünschen. Es scheint mir wichtig, das offen zu bekennen. Ich weiß wirklich nicht, wie ich mich daran freuen sollte, wenn dieses Volk, das ich so sehr liebe, einfach unterschiedslos meines Mordes angeschuldigt würde. Es wäre viel zu teuer bezahlt, das, was man vielleicht ‹Gnade des Martyriums› nennen wird, einem Algerier verdanken zu müssen, wer er auch sei, vor allem wenn er meint, in der Treue zu dem, was er Islam nennt, zu handeln.
Ich kenne die Verachtung, die man den Algeriern pauschal hat zuteil werden lassen. Ich kenne auch die Karikaturen des Islam, die ein gewisser Idealismus hervorbringt. Es ist allzu leicht, sich damit zu beruhigen, dass man diesen religiösen Weg mit der sturen Ideologie ihrer Extremisten identifiziert. Algerien und der Islam, das ist für mich etwas ganz anderes, das ist wie Leib und Seele. Ich habe dies genügend offen verkündet, ich glaube, nach bestem Wissen und Gewissen, was ich von ihnen erhalten habe, was ich so oft darin wie eine Leitidee des Evangeliums vorgefunden habe, was ich auf den Knien meiner Mutter, der allerersten Kirche, gelernt habe, und zwar genau in Algerien, und damals schon in Ehrfurcht vor den gläubigen Muslimen. Mein Tod könnte natürlich denen Recht geben, die mich allzu rasch für naiv und idealistisch gehalten haben: ‹Nun soll er doch sagen, was er davon denkt!› Aber diese sollen wissen, dass dann endlich meine quälendste Neugier gestillt sein wird.
Genau deshalb möchte ich, wenn es Gott so recht ist, meinen Blick in den Blick des Vaters versenken, um mit ihm seine Kinder im Islam zu betrachten, so, wie er sie sieht, ganz erleuchtet von der Herrlichkeit Christi, Frucht seines Leidens, erfüllt von der Gabe des Geistes, dessen geheime Freude es immer ist, Gemeinschaft zu schaffen und die Ähnlichkeit wiederherzustellen, indem er mit den Unterschieden spielt. Dieses Leben, ganz das meinige, und ganz das ihre, und nun verloren – ich danke Gott dafür, dass er es anscheinend ganz so gewollt hat, auf diese FREUDE hin, trotz allem. In dieses DANKE, worin letztlich alles gesagt ist über mein Leben, schließe ich natürlich Euch alle ein, meine Freunde von gestern und heute, und euch, o Freunde von hier, zur Seite meiner Mutter und meines Vaters, meiner Schwestern und meiner Brüder, wie auch ihrer Schwestern und Brüder, das hundertfach Zubemessene, wie es versprochen war! Und du auch, Freund der letzten Minute, der Du nicht weißt, was Du tust. Ja, auch für Dich will ich dieses DANKE sagen und dieses ‹Zu-Gotthin› annehmen, das du für mich ins Auge gefasst hast. Möge es uns geschenkt sein, dass wir beiden Schächer uns im Paradies wiederfinden, wenn es Gott so recht ist, unserem gemeinsamen Vater.
Amen! Insch’Allâh! Algier, 1. Dezember 1993 Tibhirine, 1. Januar 1994 Christian +»
Dieser Text beinhaltet zentrale Themen Christians. Darüber hinaus ist er ein hermeneutischer Schlüssel für den Lebensweg der Mönche von Tibhirine.
Pierre Claverie (1938-1996), Bischof von Oran
Wie Christian hatte Pierre Claverie eine tiefe Beziehung zum algerischen Volk. Selbst Algerier, dessen Vorfahren seit drei Generationen als Franzosen und Kolonisatoren im Land gewesen waren, hatte Pierre früh den Wunsch, Priester zu werden. Er trat bei den Dominikanern in Saulchoir ein und studierte von 1959-1967, unterbrochen von einem Militäreinsatz in Algerien (März 1962-Oktober 1963). Mit der Klarheit, dass sein Platz in Algerien ist, begann Claverie Arabisch zu lernen und verfolgte pastorale Aufgaben. Anlässlich der Installation auf dem Bischofsstuhl in Oran 1981 bezog Claverie mit seinem Ja zu einer «schwachen» Kirche Position:
«Wie können wir hinhören, wenn wir voll von uns selbst sind, von unseren materiellen oder intellektuellen Reichtümern? Unsere Chance hier in Algerien ist, dass wir unserer Reichtümer entblößt sind – aber ist man es je genug? –, auch unserer Ansprüche, unserer Selbstgenügsamkeit. So können wir zuhören, aufnehmen, von dem wenigen, was wir haben, abgeben. Wir sollten uns nicht dauernd Sorgen darüber machen, wie wir uns verteidigen können. Was haben wir zu verteidigen? Unser Vermögen? Unsere Gebäude? Unseren Einfluss? Unseren Ruf? Unsere gesellschaftliche ‹Oberfläche› [die sichtbaren kirchlichen Institutionen]? Das alles ist lächerlich angesichts des Evangeliums von den Seligpreisungen. Danken wir Gott, wenn er die Kirche auf die schlichte Menschlichkeit reduziert. Freuen wir uns über alles, was uns aufnahmebereit, verfügbar und bereit macht, eher uns hinzugeben, als uns zu verteidigen.»
Das Glaubensbuch der nordafrikanischen Bischöfe (Le Livre de la Foi), eine Beschreibung des christlichen Glaubens im Angesicht des Islam, ist wesentlich von Pierre Claverie verfasst bzw. redigiert. Er wurde am 1. August 1996 im Eingangsraum seines Bischofshauses zusammen mit seinem Chauffeur Mohamed Bouschiki Opfer eines Attentats. Pierre Claverie wurde in «seiner» Kathedrale bestattet. Die Grabplatte trägt die Inschrift «Allah mahabba», d.h. «Gott ist Liebe.»
3. Das Zeugnis
Der Prior von Tibhirine und der Bischof von Oran hinterließen Schriftliches. Die folgende Darstellung bezieht sich darauf. Die Bedeutung der algerischen Glaubenszeugen ist freilich nicht nur nach ihrem schriftlichen Nachlass zu messen.
Mysterium der Eucharistie
In Christians Testament überwiegt der Dank: «DANKE, worin letztlich alles gesagt ist über mein Leben.» Seine entscheidende Erfahrung war jene des Gerettetseins durch den Feldhüter Mohamed und dessen Lebenshingabe. Er sieht in dieser Tat der Liebe sein Leben und seine Berufung begründet: «Durch das Blut dieses Freundes habe ich erkannt, dass ich meinen Ruf in die Nachfolge Christi früher oder später in dem Land verwirklichen sollte, wo mir der größte Liebesbeweis zuteil wurde … Im gleichen Augenblick wusste ich, dass diese meine Weihe in die Form eines gemeinschaftlichen Gebets ‹gegossen› werden müsste, um ein wahrhaft kirchliches Zeugnis zu sein: ein Zeichen der Gemeinschaft der Heiligen.» Christian lebte eine Existenz, die sich ganz der Lebenshingabe eines Anderen – eines Muslim! – verdankte. Für ihn war es naheliegend, in der Tat Mohameds gleichsam eine eucharistische Handlung zu sehen, welche die Lebenshingabe Jesu fortschrieb: «Mohamed hat es verstanden, sein Leben zu geben wie Christus.» Darum, so Christian, vergegenwärtigt die Eucharistiefeier die Lebenshingabe Jesu ebenso wie jene Mohameds, der «in jeder Eucharistiefeier ganz präsent [ist] in der Wirklichkeit seines verherrlichten Leibes, wo seine Lebenshingabe ihre ganze Bedeutung für mich und für die Vielen gewinnt.» Dieser Zusammenhang ermöglicht ein vertieftes Verständnis der Eucharistie: «Wenn ein Muslim ‹eucharistisch› gelebt hat, ist dies nicht ein Zeichen, dass alle Menschen am Mysterium der Eucharistie teilhaben können?» Im Nachdenken über die Eucharistie ahnt Christian de Chergé, dass das Mysterium nicht nur die bekennenden Christen angeht, sondern dass «der Heilige Geist allen die Möglichkeit anbietet, diesem österlichen Geheimnis in einer Gott bekannten Weise verbunden zu sein» (GS 22). Die Lebenshingabe des muslimischen Freundes ist ihm Beweis der Universalität des eucharistischen Geheimnisses. Denn für Christian war es eine eucharistische Hingabe. Das Wissen, sein Leben der Hingabe eines Anderen zu verdanken, ließ Christian seinerseits die Freiwilligkeit der eigenen Lebenshingabe unterstreichen: «hingegeben, nicht genommen.» Ganz auf dieser Linie will Pierre Claverie sein Leben verstehen: «La valeur de ma vie dépend de ma capacité de la donner.»
Entdeckung des Anderen
Christian de Chergé und Pierre Claverie waren Franzosen und als solche Angehörige der (ehemaligen) Kolonialmacht. Beide nahmen am Algerienkrieg teil. Ihre Rückkehr nach bzw. Präsenz in Algerien sahen sie als eine Art Wiedergutmachung. Dazu musste ein Prozess der Entdeckung und Anerkennung des Anderen stattfinden. Bischof Pierre Claverie berichtet von einer «Kindheit unter der kolonialen Glasglocke» und einem sozialen Milieu, das den «Anderen» (Algerier, Muslim, Araber) nur «wie einen Bestandteil der Landschaft oder eine Verzierung, die wir in unsere kollektive Existenz eingepflanzt hatten», wahrnahm. Die Geschichte ließ den Anderen «eines Tages ganz massiv vor Augen» kommen und Claveries «geschlossenes Universum» aufsprengen. Der Bischof verstand diese Lektion: «Das Auftauchen des Anderen, die Anerkennung des Anderen, das Sich-an-den- Anderen-Angleichen haben mir von nun an keine Ruhe mehr gelassen.»
Zur Reinigung des Gedächtnisses stellt er die Frage, «warum ich während meiner ganzen Kindheit, als Christ …, als Hörer von Predigten über die Nächstenliebe nie gehört habe, dass der Araber mein Nächster sei … Der Andere muss da sein können, sonst setzen wir uns der Gewalt aus, dem Ausschluss, der Ablehnung.» Die Anerkennung anderer Identität, Ehrfurcht vor dem Verschiedensein: Anregungen zu diesen Themen finden der Bischof von Oran wie die Mönche von Tibhirine in der Pneumatologie und in der Trinitätslehre. Manches lässt den Einfluss des jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas (1906-1995) erkennen. Der Text «Vielfältige Menschheit» (humanité plurielle) gilt als einer der wichtigsten von Bischof Pierre Claverie.
Martyrium der Liebe
Die algerischen Blutzeugen ließen sich auf die Entdeckung des Anderen ein. Daraus wurde eine Geschichte der Treue zum algerischen Volk und der Liebe zu ihren muslimischen Nachbarn. Als sich die Spirale der Gewalt hochschraubte und alle um die Gefahr eines gewaltsamen Todes wussten, konnten sie das Land nicht mehr verlassen – aus spirituellen Gründen. In der bereits erwähnten Homilie zum Gründonnerstag bemerkt P. Christian unter Bezugnahme auf Maximilian Kolbe, dass die Kirche erst am Ausgang des 20. Jahrhunderts einem Liebeszeugnis den Titel «Martyrium» verlieh. Es geht weniger darum, vor den Angreifern ausdrücklich den christlichen Glauben zu bekennen als um die unbedingte Verpflichtung, alle zu lieben: «Das Zeugnis Jesu bis in den Tod, sein ‹Martyrium›, ist das Martyrium der Liebe, der Liebe zum Menschen, zu allen Menschen, selbst zu den Dieben, selbst zu den Räubern und Mördern.» Der Prior fährt fort: «Unser Berufseid, unsere Profess als Ordensleute (ja schon die Taufe!) – verpflichtet sie uns nicht, alle zu lieben, ‹selbst den Teufel›, wenn Gott das von uns will?» Christian wird noch konkreter: «Wenn ich mein Leben allen Algeriern geschenkt habe, dann habe ich es auch dem ‹Emir› S. A. geschenkt. Er wird es mir nicht nehmen, selbst wenn er mir dieselbe Behandlung zuteil werden lässt wie unseren kroatischen Freunden.» Und Christian erinnert erneut: «Aus Erfahrung wissen wir schließlich, dass dieses Martyrium der Liebe nicht ausschließlich etwas für Christen ist. Dieses Zeugnis können wir von jedem beliebigen empfangen, als eine Gabe des Geistes.»
Mission und Kontemplation
Die Mitglieder der Gemeinschaft von Notre-Dame de l’Atlas verstanden sich seit 1975 als «Betende unter Betenden.» Ob Glocke oder Muezzin, schreibt Christian, ein «Ruf zum Gebet kann mich nicht gleichgültig lassen. Jedes Mal drängt er mich, das Gebet ernst zu nehmen … Niemand kann zum Gebet drängen, wenn nicht Gott. Hier in Algerien verstehe ich besser, dass alle dazu gerufen sind, dass der Mensch für den Lobpreis und für die Anbetung geschaffen ist.» Der Prior von Tibhirine erkannte seine Mission in Algerien im mystisch-glaubenspraktischen Dialog mit dem Islam.
Pierre Claverie sah sich gleich zu Beginn seines Episkopats genötigt, historische Missverständnisse rund um das Thema «Mission» zu benennen: «Ja, unsere Kirche ist zur Mission ausgesandt. Ich fürchte es nicht, das zu sagen, und euch zu sagen, dass ich mich freue, mit euch diese Sendung zu teilen. Manche Missverständnisse, die man aus der Geschichte übernommen hat, schweben über der Mission und den Missionaren. So wollen wir denn heute ganz klar sagen, dass wir keine Aggressoren sind und es nicht sein wollen; dass wir keine Soldaten eines neuen Kreuzzugs gegen den Islam sind und es nicht sein wollen, auch nicht gegen den Unglauben oder gegen sonst irgendetwas; dass wir keine Agenten eines kulturellen oder wirtschaftlichen Neo- Kolonialismus sein wollen, der die algerische Bevölkerung spalten will, um sie besser beherrschen zu können; dass wir keine proselytenmacherischen Evangelisatoren sind und es auch nicht sein wollen, die glauben, Gott zu ehren durch einen unklugen Eifer oder durch die fehlende Ehrfurcht vor dem andern, seiner Kultur, seinem Glauben.» Mission hat die ehrfürchtige Entdeckung des Anderen zur Bedingung. Apostolat ist die Kunst der Begegnung und ist nicht zu reduzieren auf Glaubensverkündigung oder den Wunsch, Andersgläubige zum christlichen Glauben zu bekehren. Die Präsenz der Kirche im islamischen Umfeld ist vergleichbar mit dem Besuch Marias bei Elisabeth. «Wie Maria», führt Christian de Chergé in einer Homilie aus, «trägt sie den Immanuel in sich. Er ist ihr Geheimnis. Sie weiß nicht, wie sie es sagen soll. Muss sie es überhaupt sagen? Und da ist es oft der andere, der die Initiative zum Gruß ergreift, wie Elisabeth, die als erste mit der Freiheit des Heiligen Geistes das Wort ergreift.»
Jede Sendung der Kirche kann sich nur verstehen vom Leben des dreifaltigen Gottes her. «Mission» ist zuerst die «Mission» des Sohnes und des Heiligen Geistes, beide stets präsent und aktuell. Das liegt Christians Sicht des Islam und seiner Deutung christlicher Präsenz zugrunde: «Das Wort Gottes ist das erste Wort in der Mission. Es geht nicht nur jeder Sakramentenspendung voraus, sondern – so müssen wir annehmen – auch der ausdrücklichen Verkündigung durch die Jünger … Das Wort [Christus, der Sohn Gottes] ist den Vielen übergeben und ausgeliefert, und es ist Aufgabe des Heiligen Geistes, über die in allen Herzen ausgestreute Saat zu wachen. So ist das Wort selbst dem Wort des Jüngers immer schon voraus. Dies ist der Grund, weshalb es erkannt, wiedererkannt und, wenn Gott es will, im Glauben bekannt werden kann.» Apostolat und Mission braucht Kontemplation: «Jede missionarische Berufung bedarf … einer breiten kontemplativen Grundlage, das heißt einer inneren Offenheit für die Spuren des Gottesgeistes, der – vor jeder Verkündigung des Evangeliums – schon die Herzen und Kulturen bearbeitet hat.» Zeuge ist, wer sieht, ist jemand, der das Wirken Gottes in der Welt betrachtet.
Koinonia im Pascha
Christian de Chergé war eine Persönlichkeit, deren Führungsqualitäten nicht von allen sofort geschätzt wurden. Der Prior musste lernen, weniger alleine vorzupreschen und mehr auf die Kommunität zu hören. Nach und nach bildete sich im Konvent ein communialer Stil heraus, um alles gemeinsam zu besprechen und zu beschließen. Bernardo Olivera, damaliger General-abt der Trappisten, unterstreicht in seinem Rundbrief «Leuchtende Zeugen einer Hoffnung» vom 12. Oktober 1996 das gemeinschaftliche Zeugnis der Mönche von Tibhirine: «Sie haben zusammen gelebt, sind zusammen gestorben und zusammen in das ewige Leben eingegangen. Die Gemeinschaft ist der heilige Ort der Offenbarung Gottes. Die Liebe hat sie in einer unvergänglichen Solidarität zusammengeschweißt. Das gemeinsame Leben ohne Lebensgemeinschaft zählt wenig. Die Koinonia macht den Auferstandenen sichtbar, der alles erneuert. Sie haben nicht ihren eigenen Vorteil gesucht, sondern den der anderen, darum hat der Herr sie zusammen und zur gleichen Zeit zum ewigen Leben geführt.»
4. Das Zeugnis vernehmen
Die Kirche im Maghreb war und ist in einer Extremsituation. Wird sich die Kirche in Europa in Manchem bald ähnlich vorfinden – in der Diaspora lebend, unbedeutend im gesellschaftlichen Ganzen? Welche Qualitäten sind zu entwickeln, um den Auferstandenen zu bezeugen?
Bleiben in liebender Anwesenheit
Die historische Entwicklung führte zu zwei Fluchtbewegungen der Europäer aus Algerien: nach 1962 (Unabhängigkeitserklärung) sowie nach 1988 bzw. 1993 (Kriegserklärung an alle Fremden durch die FIS und GIA). Christen in Algerien standen angesichts des Terrors vor der Frage: bleiben oder gehen? Viele von ihnen antworteten so, wie es Christian de Chergé am 8. März 1996 formulierte: «Wir haben Zeugen des Emmanuel zu sein, das heißt des ‹Gott mit uns›. Es gibt eine Gegenwart von ‹Gott unter den Menschen›, die wir auf uns nehmen müssen, wir.» Die Mönche in Tibhirine interpretierten ihr Versprechen der stabilitas neu, indem sie in Solidarität zur ebenso terrorisierten algerischen Bevölkerung ausharrten und weiter auf die Hoffnung setzten. Der Prior berichtet: «Es war für uns nötig, dass Moussa es uns nach dem ‹Besuch› von Weihnachten gewissermaßen instinktiv ins Gedächtnis rief: ‹Uns geht es wie euch›, sagte er, ‹Wir können nur entkommen, indem wir hoffen. Wenn Ihr weggeht, wird uns euer Hoffen fehlen, und dann verlieren wir unseres.›» Solches Bleiben – gegebenenfalls bis zum Äußersten (jusqu’au bout) – ist Gegenwart des Christlichen, ja Gegenwart Christi. Liebend Dableiben bis zum Ende ist, wie der Bischof von Oran ausführt, «ein Zeugnis für die Liebe Gottes, «so wie wir sie in Jesus Christus entdeckt haben … Diese Liebe ist von tiefer Ehrfurcht vor den Menschen erfüllt, drängt sich nicht auf, drängt nichts auf, bedrängt nicht das Gewissen und das Herz der andern. Voll Zartgefühl und nur durch ihre Gegenwart befreit sie, was gebunden ist, versöhnt, was zerrissen ist, stellt auf die Füße, was niedergedrückt worden war. Diese Liebe haben wir erkannt und an sie haben wir geglaubt. Sie hat uns gepackt und gestärkt. Wir glauben, dass sie das Leben der Menschheit erneuern kann, wenn man sie nur anerkennen will.»
Ja zu einer schwachen Kirche
Auf der Suche nach dem Ordenscharisma in der gegenwärtigen Situation beurteilt Christian am 21. November 1995 die Lage der Kirche so: «Unsere Kirche ist tüchtig durchgeschüttelt worden, besonders in unserer Diözese Algier. Vermindert, wundgeschlagen, macht sie jäh die Erfahrung der Beraubung und der Zwecklosigkeit, die im Evangelium eingeschrieben sind … Verwundbar, gebrechlich bis zum Äußersten, entdeckt sie, dass sie nun auch viel freier und glaubwürdiger ist in ihrem Versprechen, ‹zu lieben bis zum Ende.›» Es ist eine Kirche, die sich in der Nachfolge des «schwachen» Christus so wie ihr Meister zur Ent-Äußerung, zum Aus-sich-Heraustreten (vgl. Phil 2,5-11) provoziert und «auf den letzten Platz» (Charles de Foucauld) gestellt weiß. Kirche ist dort glaubhaft, wo sie auf Reste klerikalen Triumphalismus› restlos verzichtet und sich arm und gewaltlos auf eine Gesellschaft einlässt.
Entwaffnung und Vergebung
Die algerische Kirche lebte über Jahrzehnte in einem Klima der Gewalt. Die Antwort der Mönche von Tibhirine und des Bischofs von Oran war Entwaffnung und Vergebung. «Herr, entwaffne mich und entwaffne sie!», pflegte Christian über Jahre hin zu beten. Dabei zitiert er Lévinas: «Ein entwaffnetes Gesicht kann den anderen entwaffnen. Wenn man sich selbst entwaffnet darbietet und glaubt, dass der andere imstande ist, sich entwaffnen zu lassen, dann geschieht es, dass die Gewalt unwahrscheinlich wird.» Nur so ist die Spirale der Gewalt zu durchbrechen. Christians Testament ist ein entwaffnendes Zeugnis der Feindesliebe und der Vergebung, wie sie die Bergpredigt vorsieht. Die testamentarische Bitte um eine «kurze Frist der Hellsichtigkeit …, um von ganzem Herzen jenem zu verzeihen, der mich heimsuchen wird», ist eng verknüpft mit dem «Martyrium der Liebe.» Die Verzeihung ist der Ort der größten Freiheit genauso wie Christian sein Leben frei hingibt («hingegeben, nicht genommen»). Die Bitte um Vergebung Gottes für die Angreifer ruht auf der Ehrfurcht vor jedem Nächsten. Beginn und Ende des Testaments (frz. À-Dieu und en-visager, mit Bindestrich) zusammengenommen ergeben: Christian schaut im Gesicht seines Mörders das Gesicht dieses «À-Dieu» zu Gott hin. Der Prior will im Angreifer – jenseits seiner Unähnlichkeit – das Antlitz Gottes entdecken.
Unterwegs zur Gemeinschaft der Heiligen
Bereits 1974 schreibt Christian de Chergé an sein Patenkind Violaine: «In dem Land, in dem ich lebe, habe ich eine Vielzahl von Patenkindern … Diese Patenkinder teilen nicht den Glauben an Christus, den du in der Taufe empfangen wirst, aber in meiner Hoffnung weiß ich, dass ihr ganzes religiöses Leben schon gewollt und geführt ist durch den Geist des Vaters, und ich liebe es, mir in ihrer Nähe schon die Freude zu ersehnen, die wir haben werden, wenn wir gemeinsam Christus erkennen.» Der Prior von Tibhirine ist ein Märtyrer der Einheit zwischen allen Söhnen und Töchtern Gottes, so verstreut sie auch unterwegs sein mögen. Oft zitiert er Joh 10,10: «Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind; auch sie muss ich führen.» Christian ist überzeugt: Der Heilige Geist ist der Protagonist der Mission, indem er in den Herzen der Menschen wie in verschiedenen Kulturen und Völkern längst am Werk ist. Das Wort Gottes spricht im Herzen jedes Menschen, auch der andersgläubigen. Christians Sehnsucht war, sich in den «Blick des Vaters» zu versenken, «um mit ihm seine Kinder im Islam zu betrachten, so, wie er sie sieht» (Testament). Die Kirche ist das vorweggenommene, sichtbare Zeichen dieser umfassenden Communio im Haus des Vaters, der alles in allen werden und das ganze Menschengeschlecht zum ewigen Hochzeitsmahl im Himmelreich versammeln will.
Heiliger Geist – «entzückter Zeuge»
Die algerischen Blutzeugen respektierten die Welt des Anderen und ließen sich dadurch bereichern. Zu dieser Sichtweise verhalfen ihnen Sichtweisen zeitgenössischer Philosophie. Darüber hinaus war es – so das Testament des Priors – die Besinnung auf das innertrinitarische Leben und auf den Heiligen Geist, «dessen geheime Freude es immer ist, Gemeinschaft zu schaffen und die Ähnlichkeit wiederherzustellen, indem er mit den Unterschieden spielt.» Innertrinitarisch «sorgt» der Geist für die Verschiedenheit. Zugleich ist die Zu-Wendung gemeinsam und wechselseitig: Der Vater ist dem Sohn zugewandt, der Sohn dem Vater, und «der Heilige Geist ist der entzückte Zeuge.» Andersheit ermöglicht Beziehung und Begegnung. Erst dadurch kann Andersheit gewissermaßen sakramental die Präsenz des Anderen zeichenhaft vergegenwärtigen: die Präsenz Gottes. Darum ist Unterschiedlichkeit generell als möglicher Ort des Geistes Jesu zu bejahen. Das «Spiel mit den Unterschieden» weiß, dass Einheit letztlich von Gott stammt und nur in Gott wiedergefunden werden kann.
Zeugen österlicher Hoffnung
Die Wahrheit dessen, der in seiner Person Weg, Wahrheit und Leben war ( Joh 14,6), zeigt sich in der Geschichte in Zeugnisgestalt. In der Pfingsthomilie vom 22. Mai 1994 über das «‹Martyrium› des Heiligen Geistes» nimmt Christian Bezug auf die islamische Tradition der 99 schönsten Namen Gottes: Gott ist, so eine der Anrufungen, der Zeuge schlechthin, denn er genügt sich selbst. Der Prior versteht das so: «In der Tat, dieser einzige Zeuge, das ist der Heilige Geist; und siehe da: er bezeugt, dass in Gott der Zeugen zwei sind, der Vater und der Sohn! Er bietet sich uns an als der Zeuge für beide, und das ist seine Art, uns einzuführen in die Liebe, die den einen mit dem andern vereint … Sein Pascha bedeutet für ihn, vom einen zum andern überzugehen in völliger Selbstvergessenheit.» Die algerischen Blutzeugen haben dem Begriff des Zeugnisses eine Weite eingeschrieben. In «völliger Selbstvergessenheit» gaben sie ihr Leben hin – aus Liebe zu ihren Nachbarn, ihren muslimischen Freunden, in der Treue zu Gott und zum algerischen Volk. Darin setzten sie das Zeugnis Christi fort und sind seither Zeugen österlicher Hoffnung.
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