archivierte Ausgabe 3/2013 |
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Herausgeber und Redaktion |
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JOACHIM HAKE Direktor der Katholische Akademie in Berlin e.V. |
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URSULA SCHUMACHER
Professorin für Dogmatik an der Universität Luzern |
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JAN-HEINER TÜCK Professor für dog-
matische Theologie, Universität Wien |
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Herausgeber und Redaktionsbeirat stellen sich vor. |
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Lesermeinung von |
Anton Svoboda,
Dipl.-Theologe, Musiker
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Dorothee Brunner |
HÖRENDES VERWEILEN VOR DEM ALLERHEILIGSTEN |
Olivier Messiaens Orgelwerk «Livre du Saint Sacrement» |
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Das letzte Orgelwerk des französischen Komponisten Olivier Messiaen (1908–1992) mit dem Titel Livre du Saint Sacrement – zu Deutsch: Buch vom Heiligen Sakrament – wurde am 1. Juli 1986 vor einem Auditorium von 2000 Organisten in Detroit (USA) uraufgeführt. Almut Rößler, die Interpretin der Uraufführung, beschreibt ihre Eindrücke von dem mehrstündigen Konzert, das aufgrund technischer Probleme der Orgel zweimal unterbrochen werden musste:
Es war Sommer und unglaublich heiß, beinahe 40 Grad. Es gab eine lange, sehr amerikanische Pause mit vielen Getränken, man quatschte wie verrückt. Das war irgendwie sehr ernüchternd für mich, diese profane Pause zwischen der Musik. Dann kamen die Leute wieder und es ging weiter. Es gab einen wirklich großen Beifall, die Amerikaner waren sehr begeistert. Ich habe mich dann mit Messiaen auf der Mitte der Empore getroffen, Messiaens Gesicht war ernst, wie benommen. Einer musste ja lächeln… Also fragte ich ihn, was denn los sei, so schlecht war’s doch nicht. Er sagte zu mir: ‹Das ist ein Stück, das sollte man nicht vor vielen Menschen spielen, das sollte man nachts spielen, wenn man ganz alleine mit Gott ist.›
Messiaens unmittelbare Reaktion auf das erstmalige Hören seines Werkes verweist nicht nur auf den großen Stellenwert des katholischen Glaubens für sein Leben und kompositorisches Schaffen. Sie kann zugleich als ein Schlüssel zum Verständnis der Musik dienen, die mehr ist als eine Komposition über das Sakrament und Mysterium der Eucharistie: Messiaen verleiht in ihr seiner persönlichen Glaubenserfahrung, seiner Berührtheit von der Gegenwart Christi Ausdruck, die Musik selbst wird zum Medium eines in Klänge gefassten Gebets zum eucharistischen Christus. An seinem Lebensabend widmet sich Messiaen damit gleich einem Bogen um sein organistisches Schaffen nochmals dem Thema, das mit Le Banquet céleste (1928) am Beginn seiner kompositorischen Laufbahn stand: der Gegenwart Christi in der Eucharistie. Dass es sich beim Livre du Saint Sacrement (1984) mit einer Aufführungsdauer von zwei Stunden um das umfangreichste Orgelwerk Messiaens handelt, zeugt ebenfalls von der großen Bedeutung der Eucharistie für Messiaen: «Ein Werk in achtzehn Sätzen zur Ehre des heiligen Sakraments, das ist ein Glaubensbekenntnis an die reale Gegenwart Christi in der Hostie!» Zur theologischen Fundierung seiner eucharistischen Komposition stellte Messiaen den einzelnen Sätzen des Werkes mottohaft insgesamt 27 Zitate aus Quellen der christlichen Glaubenstradition voran, die musikalisch entfaltet werden. Im Livre du Saint Sacrement verdichten sich so Glaubensreflexion und eucharistische Spiritualität des Komponisten zu einer persönlichen Musiksprache der Anbetung. Im Folgenden sollen Grundzüge der eucharistischen Theologie und Spiritualität des Werkes anhand der Quellenauswahl und des Aufbaus nachgezeichnet und musikalische Ausdrucksformen exemplarisch in den Blick genommen werden, um davon ausgehend Impulse für die eucharistische Anbetung zu formulieren.
Quellen der eucharistischen Theologie und Spiritualität des Livre du Saint Sacrement
In der Quellenauswahl zum Livre du Saint Sacrement spiegelt sich Messiaens Beheimatung in der geistigen und spirituellen Tradition Frankreichs des ausgehenden 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die vom Renouveau catholique und Neu-Thomismus geprägt war. Fundament seiner musikalisch-theologischen Meditationen über die Eucharistie ist die Heilige Schrift. Dabei greift Messiaen auch eucharistietheologische Schlüsseltexte aus dem Neuen Testament auf wie die Einsetzungsworte und die Brotrede Jesu (vgl. Joh 6, 22–59), die als johanneisches Pendant zur synoptischen Abendmahlstradition gelten kann. Als Hauptquelle dienen darüber hinaus zwei eucharistische Hymnen Thomas von Aquins: der Hymnus Adoro te devote und die liturgische Fronleichnams-Sequenz Lauda Sion. Bemerkenswert ist, dass Messiaen im Livre du Saint Sacrement entgegen seiner Gewohnheit nicht aus der Summa theologiae Thomas von Aquins zitiert, die ihm in früheren Werken, explizit etwa im Orgelzyklus Méditations sur le Mystère de la Sainte Trinité (1969), zur theologischen Fundierung diente. Der Rekurs auf die beiden eucharistischen Hymnen hingegen, in denen Thomas seine Eucharistielehre «poetisch verdichtet» und in personaler Gebetssprache an den eucharistischen Christus zum Ausdruck bringt, entspricht dem Grundanliegen Messiaens, musikalisch einen betenden Zugang zum Mysterium der Eucharistie zu finden. Desweiteren zitiert Messiaen aus der Nachfolge Christi des Thomas von Kempen (1380–1471), insbesondere aus dem Vierten Buch über die Eucharistie. Die in dialogischer Gebetssprache formulierte Nachfolge Christi, die auf eine verinnerlichte Spiritualität abzielt, gehörte zu Messiaens spirituellen Wegbegleitern, die er sogar während seiner Kriegsgefangenschaft im Zweiten Weltkrieg bei sich trug. Ebenso ein Werk, das Messiaen schon mit Antritt seines Organistenamtes an der Pariser Kirche Sainte Trinité im Jahr 1931 schätzen lernte, ist die Schrift Christus in seinen Geheimnissen des belgischen Benediktinerabtes Dom Columba Marmion (1858–1923). Daraus rezipiert Messiaen im Livre du Saint Sacrement das Kapitel über das Fronleichnamsfest. Heute weitgehend unbekannt, gehörten die Werke Marmions in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu der am weitesten verbreiteten religiösen Lektüre. Weiterhin rekurriert Messiaen auf drei Gebetstexte, ein kurzes Glaubensbekenntnis mit dem Titel «Acte de foi», ein Bonaventura zugeschriebenes eucharistisches Gebet und schließlich das an Mt 8, 8 angelehnte liturgische Gebet vor dem Kommunionempfang: «Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach». Die Quellenauswahl legt ein Eucharistieverständnis nahe, das von biblischer Fundierung und scholastischer Lehre herkommend vor allem durch einen individuell-spirituellen Zug gekennzeichnet ist. So stellt der Livre du Saint Sacrement weniger ein auskomponiertes Lehrstück systematischer Eucharistietheologie dar als ein in persönlicher Meditation gereiftes musikalisches Glaubensbekenntnis des Komponisten. Nach Thomas Daniel Schlee, dem Organisten der österreichischen Erstaufführung des Livre du Saint Sacrement, haben die Zitate anders als in früheren Kompositionen nicht nur erläuternde Funktion im Hinblick auf die Aussageabsicht der Musik: Sie werden selbst zum «Bestandteil eines Dialoges zwischen Komponist/Interpret und Gott.»
Musikalisch-theologische Themen des Livre du Saint Sacrement
Entsprechend Messiaens kurzem Einführungskommentar zum Werk gliedert sich der Livre du Saint Sacrement in drei Teile. Die ersten vier Sätze charakterisiert Messiaen als «Akte der Anbetung des unsichtbaren, aber im heiligen Sakrament wirklich gegenwärtigen Christus». Programmatisch, gleichsam als musikalisch-theologisches Vorzeichen für das Werk nimmt der erste Satz mit dem Titel «Adoro te» Bezug auf den Beginn des gleichnamigen eucharistischen Hymnus Thomas von Aquins: «Ich bete dich an, verborgene Gottheit». Die Haltung der Anbetung verdichtet sich klanglich in vollstimmigen, konzentrierten Akkorden, deren tiefe Bassstimme mit Subbass 32‘ mehrmals zum tiefsten Ton der Orgel hinabführt und dort verweilt. Entsprechend der vollkommenen Unterwerfung des Herzens, von der Thomas von Aquin im Hymnus spricht (tibi se cor meum totum subicit) gleicht der erste Satz einem innigen Gebet aus der Tiefe des Herzens. Die komplexen, undurchdringlichen Akkorde verweisen zugleich auf das Mysterium der verborgenen Gegenwart Christi, die das sinnliche Begreifen des Menschen übersteigt und Raum für den Glauben lässt. Entfaltet wird die Haltung der Anbetung durch die folgenden drei Sätze zur Christussehnsucht, dem Mysterium der verborgenen Gegenwart und einem musikalischen Glaubensbekenntnis.
Der zweite Teil, bestehend aus einem Binnenzyklus aus sieben Sätzen (V–XI), widmet sich der Person Jesu Christi, die unter Brot und Wein real gegenwärtig ist. Einem Kirchenfenster gleich werden ausgehend von Schrift-Zitaten verschiedene Szenen aus dem Leben Jesu abgebildet, von der Geburt über die Verkündigung hin zu letztem Abendmahl, Passion, Auferstehung, Ostererscheinung und Himmelfahrt. Eucharistietheologische Einbindung finden die Sätze zu den Mysterien Christi durch einen Gedanken Marmions: «Das Leben, das Christus uns durch die Kommunion gibt, ist sein ganzes Leben, mit den besonderen Gnaden, die er uns erworben hat, in dem er jedes seiner Geheimnisse für uns lebte.» In anderen Worten: Christus ist in der Eucharistie als der gegenwärtig, der gelebt hat, gestorben, auferstanden und bleibend präsent ist; daher erhält der Kommunizierende Anteil an allen Lebensvollzügen, der gesamten Heilswirklichkeit Christi. Musikalisch verwendet Messiaen in den Sätzen zum Leben Jesu eine ungewöhnlich plastische, anschauliche Klangsprache, die dem Hörer das biblische Geschehen zu vergegenwärtigen und nahezubringen vermag. So überträgt Messiaen beispielsweise den Gesang verschiedener Vögel aus Israel in seine Musik, die gleichsam als akustische Brückenbauer zur Zeit Jesu fungieren. Messiaen selbst notierte die Vogelstimmen während einer Israel-Reise, die er im Kompositionsjahr des Livre du Saint Sacrement unternahm, um «die Vögel zu hören, die Christus selbst gehört haben könnte in diesem Land».
Der ungewöhnlich tonale achte Satz, der von As-Dur-Klängen untermalt wird, zeichnet den Verlauf des Letzten Abendmahls nach. Im Zentrum stehen die Einsetzungsworte Jesu, wiedergegeben durch eine der menschlichen Stimme nachempfundene Melodie in Oboenregistrierung. Darauf folgt der Gesang einer Nachtigall, der «durch das geöffnete Fenster» in den Abendmahlsaal dringt, wie Messiaen im Einführungskommentar vermerkt. Über ihre konkrete Anschaulichkeit hinaus, die den Hörer unmittelbar in das Geschehen involvieren können, bergen die Gestaltungsmittel des achten Satzes eine vielschichtige Symbolik, die das letzte Abendmahl im Licht der Lebenshingabe Jesu aus Liebe erscheinen lässt. Sowohl die Tonart As-Dur, die Messiaen mit der Farbe «blau-violett» verbindet, als auch die Nachtigall stehen kulturgeschichtlich und im OEuvre Messiaens für Liebe und für Tod. Die Todesgewissheit Jesu verdichtet sich in einem extrem dissonanten Klang, der die 12 chromatischen Halbtöne der Tonleiter in enger Lage komprimiert und bereits wirkungsästhetisch einen äußerst beklemmenden Eindruck vermittelt. Für Messiaen ist der 12-Ton-Cluster mit farbloser Finsternis konnotiert. Ein zweites Mal erscheint er geräuschhaft verklingend am Ende des folgenden Satzes zur Passion Christi. Die dissonante, beinahe unerträgliche Klangsprache des Kreuzigungssatzes lässt akustisch den physischen Schmerz und die radikale Verlassenheit Jesu nachempfinden. Dieser Satz ist gewissermaßen ein Novum innerhalb des Musikschaffens Messiaens, dem «Musiker der Farbe und der Freude», und nicht zuletzt auf seine vertiefte Beschäftigung mit der Theologie Hans Urs von Balthasars im weiteren Kompositionszeitraum zurückzuführen. Die musikalische Auseinandersetzung Messiaens mit dem Leiden Christi lässt an die von Balthasar ausführlich bedachten Tiefen des Karfreitagsgeschehens denken. Der «Wucht des Kreuzes» entspricht die Herrlichkeit der Auferstehung, der Messiaen in den folgenden Sätzen klangstrahlenden Ausdruck verleiht. Dramaturgischer Höhepunkt ist der elfte Satz, in dem Messiaen beinahe opernhaft die Erscheinung des Auferstandenen vor Maria-Magdalena beschreibt.
Der dritte Teil, ebenfalls ein Binnenzyklus mit sieben Sätzen (XII–XVIII), nimmt die Haltung der Anbetung des Beginns wieder auf und richtet den Blick auf die Feier des eucharistischen Geheimnisses in der «gegenwärtigen Kirche». Angelehnt an die Stationen der Eucharistiefeier greift Messiaen die Wandlung, die Elevation der gebrochenen Hostie, den Kommunionempfang mit persönlichem Vorbereitungs- und Danksagungsgebet und ein abschließenden Dankesopfer auf. Dabei münden auch die Sätze, in denen Messiaen abstrakte scholastische Themen wie die Transsubstantiationslehre musikalisch aufbereitet, in Ausdrucksformen des persönlichen Gebets. So endet der kompositionstechnisch komplexe Satz zum Wandlungsgeschehen von Brot und Wein in Leib und Blut Christi mit der originalen Wiedergabe der gregorianischen Communio von Fronleichnam, die – ebenso wie fünf weitere gregorianische Zitate im Livre du Saint Sacrement – eine musikalische Reminiszenz an das gemeinsame liturgische Feiergeschehen, aber auch eine Verankerung in der kirchlichen Tradition bringt. Eine Besonderheit stellt der fünfzehnte Satz dar, der sich dem Moment des Kommunionempfangs widmet: Messiaens eigene Klangsprache scheint nicht auszureichen, um das unaussprechliche Geschehen der eucharistischen Vereinigung auszudrücken. Der Satz mit dem Titel «Die Freude der Gnade» besteht ausschließlich aus dem kunstvoll improvisierten Gesang dreier Vögel. Die Vögel stehen bei Messiaen symbolisch für Freude, Leichtigkeit und Freiheit. Ihr Gesang entspricht einem der zugrunde gelegten Zitate aus der Nachfolge Christi: «Der Liebende läuft und fliegt! Er ist in der Freude, er ist frei und nichts hält ihn.» Buchstäblich in die Musik eingeschrieben wird die dankbare Freude im letzten Satz «Opfergabe und abschließendes Halleluja». Der äußerst virtuose, klanggewaltig jubilierende Satz bezieht in die betende Hingabe des Einzelnen die «Gebete aller Heiligen» mit ein und weitet damit die Perspektive eschatologisch und ekklesiologisch aus. Der Satz gipfelt in der musikalischen Ausbuchstabierung des Wortes «la joie» («die Freude») mittels eines Ton-Alphabets, das Messiaen für die Méditations sur le mystère de la Sainte Trinité entwickelte und in dem jedem Buchstaben ein eigener Ton zugeordnet wird. Eindeutig im Notentext verankert deklamiert Messiaen im vierfachen Fortissimo das, worauf es ihm im Livre du Saint Sacrement ankam: die dankbare, freudige Anerkennung der Wirklichkeit der eucharistischen Gegenwart Christi.
«Farbklang und Geblendetsein»
Die Besonderheit der Musik Messiaens besteht darin, dass sie Gott nicht nur in Klängen, sondern auch in Farben, in Klang-Farben anbetet. Der synästhetisch begabte Komponist setzt im Livre du Saint Sacrement bevorzugt solche Akkorde ein, die vor seinem inneren Auge eine dezidierte Farbvorstellung hervorriefen. Auch wenn diese Klang-Farb-Zuordnung Messiaens gänzlich subjektiv ist und dem Hörer verborgen bleibt, ist sie doch ausschlaggebend für die theologische Deutung der Musik, wie sie Messiaen vor allem in seiner Conférence de Notre Dame darlegt. Messiaen selbst vergleicht darin seine farbige Musik mit bunten Kirchenfenstern gotischer Kathedralen, durch die Licht in den Innenraum fällt: Die «Musik der Farben macht das, was die Glasfenster und Rosetten des Mittelalters tun: sie beschert uns das Überwältigtsein.» Entscheidend ist, dass die Erfahrung des Geblendet-Seins («l’éblouissement»), des Ergriffen-Seins, des Staunens angesichts einer Farb- und Klangfülle, die sich dem unmittelbaren Erkennen und Begreifen entzieht, den Mensch auszurichten vermag auf Gott, der die Fülle des Lichtes und des Lebens ist. Mit seiner farbigen Musik, in der die einzelnen Tonund Farbkomplexe zu einem Klang- und Farbrausch verschmelzen, versucht Messiaen den Hörer in analoger Weise in Berührung mit einer Wirklichkeit zu bringen, die das Auffassungsvermögen des Menschen übersteigt. Bezeichnend ist, dass die beiden Gebetssätze im Livre du Saint Sacrement, die die Sehnsucht nach Christus und den Dank nach dem Kommunionempfang ausdrücken, fast ausschließlich aus Farbakkorden und mehrheitlich aus solchen bestehen, denen Messiaen eine dezidierte «Kirchenfensterwirkung» («effet de vitrail») zuschrieb. Die Sätze zeugen von der Erfahrung der Überwältigung von der Gegenwart Gottes, von Anbetung und Dank. Akustisch eindrucksvoll setzt Messiaen in der Coda des dreizehnten Satzes Akkorde nebeneinander, die vor seinem geistigen Auge Komplementärfarben hervorriefen: «beißendes Grün auf Braun-Rot, Gelb auf Violett.» Gerade das Phänomen der Komplementärfarben war für Messiaen «verbunden mit dem Gefühl für das Heilige, mit dem Überwältigtsein, woraus Ehrfurcht, Anbetung und Lobpreisung entstehen».
Mehr noch: Diese Erfahrung der sinnlich-auditiven Überwältigung stellt einen Vorausverweis auf die eschatologische Schau Christi von Angesicht zu Angesicht dar. Nach Messiaen wird die visio beatifica eine «unendliche, überwältigende Erleuchtung sein, eine ewige Musik der Farben, eine ewige Farbe von Musiken». Das Verschmelzen der Sinneseindrücke und die völlige Blendung durch das göttliche Licht selbst versucht Messiaen analog gleichsam schon hier durch seine Musik einzuholen. In der Musik des Livre du Saint Sacrement drückt sich eine Ergriffenheit von der verborgenen Gegenwart des eucharistischen Christus aus, die zugleich von der Hoffnung auf die unverhüllte Schau Christi zeugt.
Impulse für die eucharistische Anbetung
Die Musik des Livre du Saint Sacrement ist Ausdrucksmedium der Anbetung. In ihr verdichtet sich die persönliche Glaubenserfahrung des Komponisten, die unterfangen wird von Texten der christlichen Glaubenstradition. So können Konzeption und Klangsprache der Komposition zu einer Neubesinnung auf die heute mit Schwierigkeiten behaftete eucharistische Anbetung einladen. Nach Karl Rahner gehört das «stille Gebet des einzelnen vor dem Tabernakel» zu den Verehrungsformen der Vergangenheit, «welche die Zukunft, soll sie groß sein, sich neu erwerben muß».
Zunächst kann die Musik des Livre du Saint Sacrement auf den hinweisen, der unter den eucharistischen Gestalten gegenwärtig ist: Der Betende kniet gerade nicht vor der Materie des Brotes, sondern vor dem verborgenen Christus in seiner Gottheit und Menschheit. Die klangsinnlichen Sätze zu den Mysterien des Lebens Jesu, in denen besonders die Vogelgesänge dem Hörer eine Gleichzeitigkeit zum biblischen Geschehens suggerieren, setzen akustisch Jesus Christus als den gegenwärtig, der Mensch geworden, gelebt hat, gestorben und auferstanden ist – sie vergegenwärtigen das Heilsgeschehen. Dabei holt die Musik nicht nur ins Bewusstsein, dass die Eucharistiefeier wesentlich memoria passionis ist, dass der auferstandene Gekreuzigte unter der Hostie präsent ist. Sie bringt das Inkarnationsgeschehen und das Pascha-Mysterium Christi ein und lässt die Auferstehungsfreude durchklingen. Eucharistische Anbetung ist innere Bewusstwerdung und dankbare Anerkennung, dass Gott Mensch geworden ist, in seinem Leben und Sterben die Welt erlöst hat und ihr pneumatisch bleibend präsent ist – in den Worten Walter Kaspers:
In der Menschwerdung, in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi hat Gott sein Gottsein als sich selbst entäußerte Liebe endgültig geoffenbart; im Geheimnis der Eucharistie ist diese Herablassung Gottes bleibend gegenwärtig. Christliche Anbetung wird damit von der ‹Sache› her notwendig zur eucharistischen Anbetung. Sie richtet sich nicht auf die eucharistischen Gestalten als solche, sondern auf Gott, der sich uns durch Jesus Christus im Heiligen Geist schenkt. Eucharistische Anbetung ist die Antwort auf die Entäußerung der Liebe Gottes, sie ist Danksagung, Eucharistia.
Gerade die Haltungen von Dank und Freude werden im Livre du Saint Sacrement in klanglich überschwänglicher, kompositorisch unkonventioneller Weise betont: Der Vogelgesang im fünfzehnten Satz kündet von der «Freude über die göttliche Liebe» im Kommunionempfang, die gregorianischen Gesänge stehen bei Messiaen allgemein für die «Reinheit, die Freude und die Leichtigkeit, die nötig sind für den Flug der Seele zur Wahrheit hin». Das Tonalphabet im letzten Satz macht die Freude ausdrücklich, in der zugleich auf die eschatologische Festfreude vorausgegriffen wird.
Die im ersten Satz des Livre du Saint Sacrement exponierte Anbetung bleibt nicht bei der außerliturgischen Betrachtung Christi im Sakrament stehen, sondern ist auf die gemeinsame Feier und auf die eucharistische Vereinigung mit Christus im Kommunionempfang ausgerichtet. Die Konzeption des Werkes entspricht der seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil betonten Hinordnung der eucharistischen Anbetung auf die Eucharistiefeier als ihrer Quelle und ihrem Ziel, der Verwiesenheit der Kontemplation auf den Genuss der eucharistischen Speise zum Aufbau des Leibes Christi.
Trotz ekklesiologischer Anklänge wird der Mahl- und Gemeinschaftscharakter der Eucharistie bei Messiaen weitgehend ausgeblendet zugunsten eines individualistischen Zugangs, den bereits die Auswahl der Quellentexte nahelegt. Die liturgischen Erneuerungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind nicht explizit rezipiert. Die Stärke des Ansatzes bei Messiaen liegt darin, den personalen Charakter der Anbetung und die innere Beteiligung des Gläubigen am eucharistischen Geschehen hervorzuheben, die vertikale Ausrichtung der Eucharistie in den Blick zu nehmen. Es geht um den Einzelnen in seiner Beziehung zu Christus. Neben ihrer großen Anschaulichkeit lässt die Musik zugleich die Dimension des Mysteriums erfahrbar werden. Gerade die musikalisch unzugänglichen Passagen, die aus frei tonalen oder komplexen, farbig konnotierten Akkorden bestehen, verweisen den Hörer auf das Mysterium der verborgenen Gegenwart Christi.
Als betendes Zwiegespräch des Komponisten mit Gott ist die Musik zugleich eine Einladung an den Hörer, in die Gebetssprache Messiaens innerlich einzustimmen. Gerade angesichts von Zeitknappheit und Zerstreuungssucht kann das bewusste Hören auf die Musik, das geduldige Verweilen bei einem so umfangreichen Werk, neue Aufmerksamkeit und Konzentration schaffen. Die unkonventionelle Musiksprache kann anregen, sich auf eine Erfahrung einzulassen, die abseits der alltäglichen Erwartungen liegt. Auch Gebetstexte der Tradition wie das Adoro te devote können durch die zeitgenössische Musiksprache neu erschlossen und angeeignet werden. Dabei kann das Hören auf die Musik selbst eine Ahnung von Gegenwart vermitteln, entsprechend dem Diktum George Steiners, dass reale Gegenwart in der unmittelbaren Begegnung mit dem Kunstwerk zu finden sei und diese Erfahrung von der Gegenwart Gottes zeuge. Das Hören auf die Musik setzt zudem einen Kontrapunkt zum Schauen, das stets in der Gefahr steht, die Materie des Brotes zu verabsolutieren. Im Hören auf die Musik führt Messiaen mit seiner farbigen Musiksprache den Hörenden über sich hinaus, indem er ihn auf die eschatologische Schau Christi ausrichtet und die Festfreude beim himmlischen Mahl antizipiert.
Das Grundanliegen des Livre du Saint Sacrement, der wesentliche Dimensionen eucharistischer Theologie und Spiritualität aufgreift und in personaler Klangsprache akzentuiert, lässt sich mit Thomas Daniel Schlee folgendermaßen zusammenfassen: Im Unterschied zu anderen Werken ist der Livre du Saint Sacrement «am wenigsten als ein ‹konzertantes› zu begreifen», da es «als Akt der Anbetung, in Wahrheit direkt an den Allerhöchsten gerichtet ist. Diese Musik betet.»
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