archivierte Ausgabe 5/2013 |
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Herausgeber und Redaktion |
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JOACHIM HAKE Direktor der Katholische Akademie in Berlin e.V. |
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URSULA SCHUMACHER
Professorin für Dogmatik an der Universität Luzern |
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JAN-HEINER TÜCK Professor für dog-
matische Theologie, Universität Wien |
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Herausgeber und Redaktionsbeirat stellen sich vor. |
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Lesermeinung von |
Anton Svoboda,
Dipl.-Theologe, Musiker
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Achim Buckenmaier |
WAHRHEIT, EINHEIT UND GEGENWART DER KIRCHE |
Augustinus’ Argumentation gegen die Schismatiker als Anregung für eine Konzilshermeneutik |
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1. Die Herausforderung durch den schismatischen Partikularismus der Donatisten
Die intellektuelle Schärfe der Gedanken und die leidenschaftlich existentielle Suche nach der Wahrheit, die Gott ist, haben den Werken des heiligen Augustinus eine gewisse Zeitlosigkeit verlieren, die leicht vergessen macht, dass der Bischof von Hippo in hohem Maße ein Mann seiner Zeit war, eingetaucht in die Nöte der Kirche des 4. Jahrhunderts und bedrängt von den Zerreißungen seiner Epoche. Viele seiner theologischen Schriften verdanken sich konkreten Fragen und Auseinandersetzungen, denen er sich als Hirte der ihm anvertrauten Herde stellen musste. In Nordafrika, das vielleicht die fruchtbarste kirchliche Landschaft des Imperium Romanum bildete, waren die letzten Jahre des 4. Jahrhunderts, genauer die Zeit von 388 bis 398, das Jahrzehnt des Donatismus. Hermann Josef Sieben sagt zu Recht: «Von daher war es keine maßlose Übertreibung, wenn der donatistische Metropolit von Karthago, Primianus, 395 anlässlich einer Gerichtsverhandlung erklärte, ‹fast die ganze Welt› gehöre seiner Kirche an.» Donatus fühlte sich tatsächlich als Primas Afrikas. Auch Augustinus’ Biograph, Possidius, bezeugt, dass am Ende des 4. Jahrhunderts die Mehrheit der Christen Afrikas Donatisten waren. Unermüdlich versuchte Augustinus durch Diplomatie, direkte Kontakte, Briefe, Bücher, Konferenzen, Reisen und Predigten, den Donatismus und damit die afrikanische Kirchenspaltung zu überwinden. Literarisch setzte er sich fast dreißig Jahre lang mit der donatistischen Spaltung auseinander. Neben den eigentlichen antidonatistischen Werken befasst sich allein ein Fünftel seines erhaltenen Briefwechsels nur mit Fragen des Donatismus.
Der Streit zwischen der Catholica und den Donatisten bestand in der Frage, ob Priester, die während der Verfolgung vom Glauben abgefallen waren, weiterhin taufen dürften oder ob ihre Taufen ungültig seien. Hinter der donatistischen Praxis der Wieder taufe von Christen, die von traditores getauft worden waren, stand nicht nur die Frage nach der Gültigkeit der Sakramente, sondern viel grundlegender die Frage nach der Heiligkeit der Kirche. Eine Kirche, in der ehemals abgefallene Priester leben und wirken, konnte für die Donatisten nicht mehr die wahre Kirche sein. Im Selbst bewusstsein der Kirchen, die im kulturell und ökonomisch wichtigen Nordafrika aufgeblüht waren, fand diese rigorose Haltung einen fruchtbaren Boden und drohte, im Verbund mit dem nordafrikanischen Partikularismus sich zu einer Sondertheologie zu verfestigen. Auch die neu gewonnene Verbindung von Staat und Kirche wurde zu einem Nährboden für den Donatismus mit seiner Hochschätzung der Märtyrertreue und seinem Eintreten für eine heilige Kirche. Einer der ersten literarischen Versuche, dem Donatismus zu begegnen, ist im Werk des Optatus von Mileve († vor 400) zu finden. Im zweiten seiner sieben antidonatistischen Bücher argumentiert Optatus besonders mit der Katholizität der Kirche, die als über die ganze Welt verbreitete und durch die Cathedra Petri geeinte Gemeinschaft die wahre Kirche ist. Optatus legt die Spur auch für Augustinus: Die Verfehlung der Donatisten sieht er vor allem in ihrer Trennung von der Kirche. Die Universalität der Herrschaft Christi ist der Grund für die Universalität der Kirche. Dass sie über die ganze Erde verbreitet und doch geeint ist, entspricht deswegen dem Willen Gottes, nicht aber eine partikulare Kirche. Die tatsächliche Beschränkung der donatistischen Hierarchie auf den nordafrikanischen Raum – mit der Ausnahme einer kleinen Gemeinde in Rom – erleichterte diese Argumentation. In einer Homilie zu Ps 21 betont Augustinus die Universalität des Auftrages der Christen: Die Donatisten geben Christus nur einen kleinen Teil der Welt zur Herrschaft, nämlich Nordafrika, und sind damit zufrieden. Der Donatismus muss kritisiert werden, weil «dem, der den ganzen Erdkreis besitzt, nur ein Teil angeboten wird, weil man dem, der zur Rechten des Vaters sitzt, anstelle der ganzen Welt nur Afrika zeigt». Augustinus wird später deswegen konsequent von der pars Donati sprechen; nach Lamirande nannte er die Donatisten in seiner gesamten Literatur nur dreimal ecclesia.
Optatus hatte freilich nur einen formalen Defekt der Donatisten aufgedeckt. Unbeantwortet blieben zwei Argumente, welche die Donatisten gern in die Auseinandersetzung einbrachten, und auf die sie ihre Sicht bauten. Zum einen stellten die Donatisten die Großkirche vor ein Dilemma, indem sie zwei Möglichkeiten des Umgangs mit der Wiedertaufe formulierten: Entweder die ‹Katholiken› anerkennen die Taufe, die durch die Donatisten erfolgte und taufen zur Catholica Zurückgekehrte nicht mehr; dann müsse sich fragen, ob nicht bei diesen die wahre Kirche sei. Oder sie erkennt die donatistische Taufe nicht an, weil sie die Donatisten als Kirche ablehnt; dann muss sie sich aber fragen lassen, warum sie Konvertiten aus dem Donatismus nicht noch einmal tauft.
Als zweites, gewichtiges Argument führten die Donatisten die große theologische Autorität Cyrians von Karthago († 258) an, der – auch gegen Rom und Papst Stephan I. – gegen die Gültigkeit der Taufe durch Häretiker eingetreten war. Die Berufung auf diese unbestrittene kirchliche Autorität war sicher der schwerwiegendste und wirkungsvollste Hebel in der donatistischen Beweisführung.
2. Die vertiefte Ekklesiologie des Augustinus angesichts des donatistischen Schismas
In seinem wohl in den Jahren 400 bzw. 401 verfassten Buch «De Baptismo», das früheren antidonatistischen Schriften (seit 394) folgt, entfaltet nun Augustinus die ganze Breite seiner Antworten, die er in den Kontext der Ekklesiologie stellt: Wo sind die Grenzen der Kirche? Gibt es auch außerhalb von ihr gültig gespendete Sakramente? Und vor allem: Wie kann man in der Kirche mit Autorität umgehen, wie die Balance zwischen Überlieferung und Gegenwart finden?
In der Frage nach dem Umgang mit der Wiedertaufe durch die Donatisten war die Lösung noch relativ einfach zu finden. Augustinus betonte die Objektivität des Handelns Gottes, der sich in der Kirche des persönlichen Handelns der Priester bedient. Das Handeln Gottes trägt und umfasst das sakramentale Handeln der Kirche und ihrer Diener. Die Katholiken anerkennen die Taufe der Donatisten, weil sie «nicht die Taufe von Schismatikern und Häretikern [ist], sondern die Taufe Gottes und der Kirche, wo immer sie vorgefunden wurde und wohin immer sie übertragen wurde». Damit überwindet Augustinus auch die allzu schnelle Aufteilung in die Bereiche inner- und außerhalb der Kirche. Er schaut nicht nur auf das Schisma, die Trennung, sondern auch auf die Wahrheit. So kann er sagen: Die Donatisten sind in manchen Dingen noch mit der Kirche eins, in anderen hingegen nicht. Darum kann man auch nichts dagegen haben, dass sie Dinge tun, in denen sie noch bei der Kirche sind. «Daher sagen wir ihnen nicht: ‹Spendet keine Taufe!›, sondern: ‹Spendet keine Taufe im Schisma!›»
Für Augustinus besteht das Wesen einer innerkirchlichen Spaltung gerade darin, dass der getrennte Teil einiges aus dem Glaubenswissen bewahrt, anderes aber verliert oder ablegt. Es gibt also bei Schismatikern Elemente des Kirchlichen. Die Taufe wird aber wirksam durch das, was bei den Schismatikern vom rechten Glauben festgehalten wird. Es ist die wahre Kirche, die durch die bei den getrennten Brüdern festgehaltenen Wahrheiten die Taufe wirksam macht. Augustinus gebraucht für die Wirkung der Taufe gerne das Bild der Geburt von Gotteskindern; deswegen kann er sagen: Nicht die Trennung der Schismatiker gebiert diese Wirkung, sondern das, was sie von der Kirche noch festgehalten haben, bringt sie hervor.
Die Argumentation des Bischofs von Hippo entschärft nun aber nicht, wie man vielleicht aus einem irenischen Gefühl heraus lesen könnte, billig die Problematik der donatistischen Praxis und Abspaltung, sondern macht das Schwerwiegende der Spaltung erst deutlich. Augustinus anerkennt, wie bereits dargelegt, die Taufe der Donatisten; sie ist wirksam und heilt «von der Wunde des Götzendienstes und des Unglaubens». Die positive Wirkung ihrer Handlung wird aber zerstört, weil sie im Schisma taufen, also die Täuflinge «mit der Wunde des Schismas [schlagen], was schwerwiegender ist». Hier steht Augustinus ganz in der Tradition der frühen Ekklesiologie. Irenäus von Lyon († um 202) hatte mit derselben Eindringlichkeit vor dem Schisma gewarnt: «Aus geringfügigen und zufälligen Gründen zerreißen sie den großartigen und herrlichen Leib Christi und zerteilen ihn, und soweit es an ihnen liegt, würden sie ihn töten. Sie sagen Frieden und machen Krieg. ‹Sie sieben› wirklich ‹die Mäuse und verschlucken das Kamel› (Mt 23, 24). Sie können das Unglück eines Schismas bei der Größe des Schadens überhaupt nicht wiedergutmachen.»
Die Einheit der Kirche zu wahren, ist für Augustinus die wahre Liebe. Ohne sie ist alles anderes nichts, wie er mit Verweis auf 1 Kor 13, 2 betont: «Und hätte ich allen Glauben, um sogar Berge zu versetzen, hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich nichts.» Daraus folgert er für die kirchliche Existenz des Christen: «Was nützt also einem Menschen sogar der gesunde Glaube oder vielleicht bloß das gesunde Sakrament des Glaubens, wo durch die tödliche Wunde des Schismas die Gesundheit der Liebe vernichtet wurde?»
Augustinus liebte biblische Beispiele. An den alttestamentlichen Geschwisterproblemen Isaak-Ismael, Esau-Jakob und Ascher, dem Sohn Jakobs aus der Verbindung mit der Magd Silpa, zeigt er, dass das Ausscheiden aus der rechtmäßigen Erblinie nicht in der verschiedenen Herkunft liegt, sondern im Bruderstreit. Erst die fraterna discordia bewirkt die Trennung vom Volk Gottes. Die Übereinstimmung mit den Brüdern, die concordia cum fratribus, wäre auch den Donatisten jederzeit wieder möglich.
3. Augustinus’ neue Weise, die Autorität Cyprians zu verstehen
Augustinus führt nun im weiteren über Optatus hinaus, indem er das schwierige Problem der Autorität des Cyprian, der in der Tauffrage irrte, direkt angeht. Auch Optatus hatte das Problem gesehen, dass sich die Donatisten mit ihrer Forderung einer Wiedertaufe auf die Autorität des Cyprian berufen konnten, aber er hatte das Problem durch Verschweigen, durch Nichterwähnung des großen afrikanischen Kirchenvaters lösen wollen. Bei Augustinus bildet nun die Würdigung von Person und Werk Cyprians den Schlüssel. Er will zeigen, dass «Cyprian trotz seines theologischen Irrtums ein großer Geistes- und Kirchenmann war, der jedoch von den Donatisten für ihre Zwecke mißbraucht wurde». Er zeigt zuerst an der Person des Cyprian, dass Autorität nicht gegen eine notwendige Korrektur ins Feld geführt werden kann: Die auctoritas des Cyprian schreckt Augustinus nicht, weil er dessen humilitas kennt. Cyprian selber hatte dies am Beispiel des Petrus aufgewiesen: Auch dieser handelte in der Frage, ob Heiden in den Gemeinden wie Juden leben sollten (vgl. Gal 2, 14), eine Zeitlang gegen die regula veritatis, an die sich die Kirche nachher durch den Rat des Paulus hielt. Petrus ließ sich von Paulus korrigieren, obwohl er das Haupt des Apostelkollegiums war und Paulus zuerst Verfolger der Kirche gewesen war. Cyprian hatte das Vorbild des Petrus als Beispiel dafür genommen, dass man in der Kirche nicht hartnäckig an einer Meinung festhalten muß, wenn einem die Mitbrüder eine andere Betrachtung zeigen, die nützlich und vernünftig ist.
Mit der genauen Darstellung der Haltung Cyprians hat Augustinus das bloße Autoritätsargument der Donatisten bereits geschwächt und seine entscheidende Folgerung vorbereitet. Für ihn ist klar, dass es demselben Cyprian sogar leicht fiele, seine Meinung im Ketzertaufstreit zu revidieren, wenn ihm jemand die Argumente vernünftig vortragen würde und dass «auch Cyprian zweifelsohne nachgegeben hätte, wenn die Wahrheit in dieser Frage schon in der damaligen Zeit vollständig ans Licht gebracht und durch ein Plenarkonzil befestigt worden wäre».
Augustinus zeigt, dass Cyprian gerade durch seine Kirchlichkeit der Auffassung von der Ungültigkeit der Ketzertaufe vertraute; da es noch keine gesamtkirchliche Entscheidung dieser Frage gab, schloß er sich, so Augustinus, der nächstliegenden Autorität an, die er in Agrippinus, seinem Vorgänger auf dem Bischofsstuhl von Karthago fand. Für Augustinus war die Auffassung des Agrippinus bereits eine Verfälschung der kirchlichen Tradition, die aus einer Neuerungssucht entsprang. Damit entschuldigt er Cyprian, in dessen Seele sich so Scheingründe breitmachen konnten, die ihm den Weg zur Einsicht in die Wahrheit versperrten. Man mag allerdings auch eine leichte Kritik an Cyprians Autoritätsvertrauen heraushören, wenn Augustinus festhält, Cyprian hätte offensichtlich «lieber das von seinen Vorgängern angeblich Aufgefundene verteidigen als sich selbst beim Suchen weiter abmühen» wollen; der lectulus auctoritatis, das Bett der Autorität, wie sie in seinem Vorgänger und in einem regionalen Konzil anzutreffen war, bot dem Erschöpften eine falsche Ruhe. Einen unkritischen Rekurs auf die Überlieferung lässt Augustinus nicht gelten. Mit Libosus von Uaga sagt er: «Im Evangelium sagt der Herr: Ich bin die Wahrheit ( Joh 14, 6), er sagt nicht: ich bin die Tradition. Nachdem die Wahrheit kundgetan wurde, soll die Tradition der Wahrheit weichen.»
Hauptpunkt der Argumentation bleibt aber die Tatsache, dass noch keine universalkirchliche Entscheidung in dieser Frage erfolgt war, durch die diese Wahrheit hätte klar und unzweifelhaft ans Licht treten können. Einem solchen Entscheid hätte sich Cyprian ohne Frage angeschlossen, das zeigt dessen ganze Haltung und sein Werk. Die Donatisten fordern deswegen Augustinus auf: «Schlagt uns nicht die Autorität Cyprians um die Ohren, um die Wiederholung der Taufe zu rechtfertigen, sondern haltet euch zusammen mit uns an das Beispiel Cyprians, mit dem Ziel, die Einheit zu wahren!»
Die Autorität des Cyprian kann also für Augustinus nicht bloß formal aufgerufen werden. Cyprians Einheitsliebe hat ein größeres Gewicht, als die Tatsache, dass er sich einer Veränderung der urkirchlichen Tradition angeschlossen hatte. Damit kommt Augustinus zu einer wichtigen Aussage: Agrippinus konnte sich auf ein regionales Konzil im Jahr 256 berufen. Spätere können sich aber auf solche frühen Konzilien nicht berufen, vor allem, wenn in der Sache anders oder in neuer eindeutiger Weise entschieden wurde, und vor allem dann nicht, wenn einem frühen Regionalkonzil ein universales Konzil gegenübersteht. Partikularsynoden bzw. -konzilien sind für Augustinus Stufen im Prozess der Wahrheitsfindung.
Programmatisch fasst Augustinus zusammen: «Wenn dagegen auf sein [i.e. des Agrippinus] Konzil abgehoben wird, dann ist diesem das spätere Konzil der gesamten Kirche vorzuziehen, deren Glied zu sein er [Cyprian] froh war und an die er immer wieder erinnerte, auf dass die übrigen ihn im Festhalten am Zusammenhang des ganzen Leibes nachahmen.» Die Kirchlichkeit des Cyprian («er war froh, Glied der Kirche zu sein») würde ihn stets auf die Gesamtkirche schauen und ihr mehr vertrauen lassen, als sich selber oder früheren und regional begrenzten Beschlüssen. Damit findet Augustinus zu dem hermeneutischen Spitzensatz: «Spätere Konzilien werden bei den später Lebenden den früheren und das Ganze völlig zu Recht den Teilen vorgezogen.» Universalität und Nähe zur Gegenwart werden zu weiteren Kriterien, wenn es um die Autorität von Konzilien geht. Man kann nicht die frühere Kirche in Stellung bringen gegen die jetzige. Wenn Cyprian die jetzigen Entscheidungen der Konzilien gekannt hätte, wäre er nicht im Irrtum geblieben, sondern hätte dazugelernt und sich korrigiert. Das steht für Augustinus fest.
4. Die Verschränkung von Wahrheitsfrage und Einheit mit der je aktuellen Kirche
Welche Einsichten lassen sich nun aus dem historischen Beispiel des Ketzertaufstreites und der Argumentation des Augustinus gewinnen? Um eine Antwort zu finden, muss man zuerst das Verständnis von Universalität und Geschichte bei Augustinus beachten: Die Autorität der Universalität, welche die Wahrheit garantiert, entspringt für Augustinus nicht einem numerischen consensus omnium, sondern resultiert aus der Tatsache, dass in der universalen Kirche die Gesamtheit der apostolischen Nachfolge präsent ist, «durch die die Wahrheit Christi bis in die Gegenwart überliefert ist». Und ebenso entspringt die Bedeutung der Gegenwart nicht der optimistischen Idee eines linearen geschichtlichen Fortschritts der Wahrheitserkenntnis, als vielmehr der heilsgeschichtlichen Sicht einer immer neu sich offenbarenden Wahrheit, die in der Kirche manifest ist, und die auf dem Weg Israels und der Kirche langsam in Versuch, Irrtum, Rückfall und Korrektur sichtbar wird und in jeder Generation neu aufgenommen werden muss. Die Zusagen Jesu an die Jünger: «bis an die Grenzen der Erde» (Apg 1, 8), und: «alle Tage bis zum Ende der Welt» (Mt 28, 20) umreißen genau diese doppelte Dimension der Katholizität.
Die Gesamtkirche im Heute ist Garantin der synchronen und diachronen Katholizität. Beide müssen zusammenkommen, um das Schisma als solches kenntlich machen zu können. Die Gesamtkirche garantiert, dass partikuläre Erfahrungen nicht vorschnell zur Glaubensregel werden, sondern durch die Korrektur und Ergänzung mit anderen Erfahrungen und Einsichten ihr zugeordnet bleiben. Der Bezug auf das Heute der Kirche garantiert, dass man sich nicht in einem träumerischen Subjektivismus verliert, der eine beliebige Zukunft und eine ebenso beliebig ausgesuchte Vergangenheit zum Maßstab des Glaubens macht. In der kritischen Situation des donatistischen Schimas und der Berufung auf die Autorität des Cyprian hatte sich Augustinus nicht in die falsche Alternative zwischen Rekurs auf die Wahrheit oder Festhalten an der Einheit der Kirche drängen lassen. Die Wahrheit findet sich für ihn nur in der Einheit mit der Kirche und zwar mit der aktuellen Gesamtkirche. Das Bleibende an der Argumentation Augustins ergibt sich aus der immer neuen Versuchung, die Kirche mit ihrer eigenen Geschichte auszuhebeln. Nicht nur der Weg der universalen Kirche, sondern auch ihrer Gemeinden und Bewegungen bleibt stets von der falschen Hermeneutik dieser Verlockung begleitet.
In einer Rede über Psalm 94 polemisiert Augustinus gegen eine solche ahistorische Romantik. Bezeichnenderweise ist ihm die Aussage des Psalms «Wohl dem Mann, den du, Herr, erziehst, den du mit deiner Weisung belehrst» (Ps 94, 12) Anlass, die Lehre der Tora als Lehre des Heute zu verstehen. Er führt dies mit einer feinen Ironie aus, wenn er sagt: «Unsere Vorfahren haben ihre Zeiten beklagt, und deren Großväter haben ihre Zeiten beklagt. Den Menschen haben die Zeiten, die sie selber durchlebten, nie gefallen. Aber den Späteren gefallen die Zeiten der Vorfahren. Auch denen hatten damals die Zeiten gefallen, die sie nicht mitgemacht haben. Daher gefielen sie ihnen. Was nämlich gegenwärtig ist, fühlt sich unangenehm an. Ich sage nicht, das rückt mehr auf den Leib, sondern es berührt alltäglich das Herz. Jedes Jahr sagen wir gewöhnlich, wenn wir die Kälte fühlen: So kalt ist es ja noch nie gewesen. So heiß ist es ja noch nie gewesen.»
Die Dogmengeschichte zeigt eindrücklich, dass gerade in Phasen, in denen die Kirche um eine neue Sprache ringt, weil sie in noch unerschlossene Denkweisen vorstößt und neue Fragen auf sie zukommen, das Festhalten an früheren Aussageweisen ins Schisma und letztendlich in die Häresie führt: Monotheismus und Monotheletismus führten gerade deswegen in die Irre, weil sie sich weigerten, eine sprachlich-begriffliche Differenzierung mitzumachen zu einer Zeit, da die überkommenen Formeln bereits missverständlich geworden waren. Als die Kirche 1854 die Immaculata Conceptio dogmatisierte, griff sie noch einmal auf diese Einsicht zurück, um zu zeigen, dass sie nichts Neues erfindet, aber auch, wie sie eine lange gewachsene Einsicht in eine neue Sprache bringt, um sie für die neue Generation und für künftige zu sichern. Die Bulle «Ineffabilis Deus» Pius’ IX. macht in ihren Aussagen über die Dogmenentwicklung deutlich, dass die Kirche dem ihr anvertrauten Glaubensgut nichts hinzufügt, nichts wegnimmt, nichts verändert. Aber sie geht mit dem depositum fidei so um, dass die alten Glaubenslehren heute Einsichtigkeit (evidentiam), Licht (lucem) und Unterscheidung (distinctionem) erhalten.
Was Alois Grillmeier zu den frühen Konzilien sagte, muss man als methodische Anfrage an die Geschichtsschreibung und Hermeneutik aller Konzilien ernst nehmen: «Die Geschichte der alten Konzilien und ihrer Dogmen studieren, heißt aber auch nach einer unzerreißbaren Kette greifen. Wenn ich Chalcedon sage, so meine ich auch Ephesus 431, Konstantinopel 381 und vor allem Nicäa 325.» Für Grillmeier äußerte sich dieses Bewusstsein eines inneren Zusammenhangs der ersten Konzilien gerade in der Scheu der Väter von Chalcedon, ein weiteres Glaubensbekenntnis vorzulegen. «Es klingt wie ein Programm, wenn die Väter ihr neu verfasstes Symbolum einleiten mit den Worten: ‹In der Nachfolge der heiligen Väter›. Diese Formel ist ernstgemeint. Das ganze Symbol ist nichts anderes als ein Mosaik aus lauter überlieferten Formeln. Im letzten Satz ihrer Glaubensformel nennen sie noch einmal die Quellen christlicher Überlieferung: ‹wie die Propheten von Anbeginn, und wie Jesus Christus selbst uns gelehrt, und wie das Symbol der Väter es uns überliefert hat›.»
Für die Väter von Chalcedon und auch für Leo I. war die Linie, die vom Alten Testament, dem Evangelium über die Lehre der Apostel und Nicäa bis in ihre Gegenwart, zu Chalcedon, führt, unübersehbar. Erst von dieser Übereinstimmung her erhält das Konzil von 451 seine überragende Autorität. In der Tat hat sich auch das Zweite Vatikanum dieser hermeneutischen Figur bedient, wenn es z. B. die Offenbarungskonstitution in den Kontext der Vorgängerkonzilien Vatikanum I und Trient stellt: Conciliorum Tridentini et Vaticani I inhaerens vestigiis (DV 1), was Karl Barth trefflich mit «von den Spuren jener Konzilien her vorwärtsgehend» übersetzt hat. So gilt also auch hier: Wenn ich Vatikanum II sage, so meine ich auch Vatikanum I und Trient und die weiteren Konzilien; dies gilt, wie wir in Augustins Argumentation im Blick auf die Verwendung der Positionen Cyprians gesehen haben, auch in umgekehrter Richtung. Trient – das wäre der Fehler der Traditionalisten – braucht nicht gegen das Vatikanum II gerettet werden, und jenes letztere ist nicht maßgebend, weil es Besseres gelehrt hat, sondern weil es das jüngste der Konzilien ist, in dem das Bisherige für heute gesammelt und dadurch neu gesichtet ist.
Das Mitgehen und Mitglauben mit dieser Kirche bis heute wird zum Prüfstein des echten Glaubens. Insofern grenzt jedes Schisma an den Irrglauben, die Häresie, und führt letzten Endes in diese. Man kann nicht den ganzen Glauben, die vera veritas in einer kleinen, vom Gesamten getrennten Gruppe bewahren. Das ist auch das Missgeschick zeitgenössischer Schismatiker, ob sie sich auf frühere Konzilien berufen und spätere geringachten oder missachten, oder ob sie als vermeintliche Avantgarde nationale oder regionale Sonderwege der Glaubenslehre und Praxis einschlagen und sich innerlich von der universalen Kirche lösen oder auch äußerlich von ihr trennen. Jedes einzelne universale Konzil, auf das man sich ausschließlich beruft, spricht als solches gegen einen exklusiven Rekurs und für die Gesamtkirche und ihren geschichtlichen Weg. Das bis heute unterstellt auch die Kirche der Prüfung durch die lange Glaubensgeschichte, die Chalcedon ja erstaunlicherweise mit der Nennung der Propheten bis ins Alte Testament noch zurückzuführen wusste und nicht erst mit Jesus beginnen ließ. Es ist also nicht einfach die Einheit mit «der Kirche» über die Wahrheitsfrage gestellt, sondern die Kirche selbst steht in der Geschichte und muss immer neu die Übereinstimmung mit ihrem Ursprung finden.
In der Tradition des Augustinus schlagen hingegen die Verletzung der Einheit der Kirche durch die Schismatiker, die sich keine Korrektur gefallen lassen wollen, und die Trennung von der jetzigen Gesamtkirche eine Wunde, die ihnen letztlich auch das Positive, das im Festhalten des Früheren bewahrt werden soll, aus der Hand nimmt.
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