archivierte Ausgabe 4/2015 |
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Herausgeber und Redaktion |
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JOACHIM HAKE Direktor der Katholische Akademie in Berlin e.V. |
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URSULA SCHUMACHER
Professorin für Dogmatik an der Universität Luzern |
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JAN-HEINER TÜCK Professor für dog-
matische Theologie, Universität Wien |
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Herausgeber und Redaktionsbeirat stellen sich vor. |
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Lesermeinung von |
Anton Svoboda,
Dipl.-Theologe, Musiker
Lesen Sie hier |
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Martin Schneider / Hans Tremmel |
AUCH FLÜCHTLINGE HABEN RECHTSANSPRÜCHE |
Was aus sozialethischer Sicht im Asylrecht geboten ist |
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Das grundlegendste Menschenrecht ist das «Recht, Rechte zu haben». Mit diesem Diktum brachte Hannah Arendt auf den Punkt, dass für den Einzelnen Menschenrechte nur dann einen Wert haben, wenn er einer Rechtsgemeinschaft angehört, die ihm seine Rechte auch wirklich garantiert. Staatenlose sind demgegenüber der Gefahr ausgesetzt, faktisch weitgehend rechtlos zu sein. Denn Flüchtlinge sind zwar grundsätzlich wie alle Menschen Träger von Menschenrechten, solange sie sich aber zwischen den Staaten bewegen, gibt es kaum eine verbindliche Instanz, die ihre Rechtsansprüche durchsetzen kann oder will. Die zumeist dramatischen Umstände im Herkunftsland haben sie zur Flucht gezwungen, so dass von dort keine Unterstützung zu erwarten ist. Gleichzeitig ist der Schutzrechte gewährende Aufnahmestaat oder wenigstens ein sicheres Transitland noch nicht gefunden.
Neben einer an der Menschenwürde orientierten Migrationspolitik und einer Fluchtursachenbekämpfung, die den Namen verdient, könnte ein individuelles Menschenrecht auf Asyl eine Antwort der Staatengemeinschaft auf den Überlebenskampf von Millionen Flüchtlingen weltweit darstellen. Welche aktuellen Herausforderungen sich für die Flüchtlingsproblematik aus der sozialethischen Perspektive ergeben, soll im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen. Wir konzentrieren uns dabei auf das deutsche und damit verknüpft europäische Asylrecht. Ausgehend von der Neujustierung des Asylrechts in Deutschland zeigen wir zum einen auf, wie fragil die Rechtsansprüche von Flüchtlingen sind. Zum anderen wollen wir die normativen Voraussetzungen für ein Asylrecht hervorheben, das einen Wandel von einem rein innerstaatlichen Verständnis zu einer staatenübergreifenden, europäischen Gesamtregelung vollzieht.
1. Ein moralischer Fortschritt: Das einklagbare Menschenrecht auf Asyl
Die internationale Staatengemeinschaft hat nach dem Zweiten Weltkrieg auf die besondere Schutzbedürftigkeit von Flüchtlingen reagiert. In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) vom 10.12.1948 ist das Recht eines jeden verbrieft, «in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen» (Art. 14 Abs. 1). Die AEMR ist jedoch kein rechtsverbindlicher Vertrag. Zudem besitzen die Vereinten Nationen nicht die notwendigen Kompetenzen und Sanktionsmöglichkeiten, um das Menschenrecht auf Asyl tatsächlich durchzusetzen. Es bleibt den einzelnen Staaten vorbehalten, inwieweit sie die Grenzen für Flüchtlinge öffnen. Die Asylgewährung ist damit weiterhin ein Gnadenakt der souveränen Staaten, jedoch kein individuelles Menschenrecht für Verfolgte. Genau aus diesem Grund ist es so bedeutsam, dass die Bundesrepublik Deutschland das individuelle Recht auf Asyl in den Grundrechtskatalog aufgenommen hat. «Politisch Verfolgte genießen Asylrecht», so heißt es in Art. 16 GG. Dieses Asylgrundrecht bedeutete einen «Höhepunkt in der Asylrechtsentwicklung», weil erstmals das personengebundene Anspruchsrecht auf Asyl in einer nationalen Verfassung verankert wurde. Ob jemandem Asyl gewährt wird, wurde damit der «Willkür staatlicher Gnade oder Ungnade entzogen». Gefolterte, vergewaltigte, ihrer Meinung beraubte und unterdrückte Menschen erhielten einen individuellen Rechtsanspruch auf Schutz und lebensnotwendige Subsistenzgrundlagen. Ob diese Sätze nach der Grundgesetzänderung im Jahr 1993 immer noch gelten, ist eine Frage, der wir unten nachgehen. Nicht eingehen können wir hier auf die Frage, welche Konsequenzen sich aus dem individuellen Anspruchsrecht auf Asyl für das Völkerrecht ergeben müssten.
2. Die Relevanz der Frage, was eine Person zum Flüchtling macht
Die Tatsache, dass für das deutsche Asylrecht der Begriff der politischen Verfolgung eine so zentrale Rolle spielt, führt uns zunächst zur allgemeineren Frage, was eine Person zu einem Flüchtling macht. Für Menschen, die fliehen müssen, ist die Defi nition der Fluchtgründe nicht unbedeutend. Je nachdem wie die Merkmale definiert werden, wird Asyl gewährt oder nicht. Zunächst gilt: Flucht ist ein Migrations-Vorgang, bei der eine Person ihren Lebensmittelpunkt nicht freiwillig verlegt. Wer sich aus Gründen der Arbeit, des Studiums, der Familienzusammenführung oder wegen der schöneren Gegend auf den Weg macht, ist kein Flüchtling. Er fühlt sich vom Zuwanderungsland lediglich angezogen. Man spricht deshalb von Pull-Faktoren. Zum Flüchtling wird, wer verfolgt oder vertrieben wird, wer sich aus welchen Umständen auch immer unerträglichen Push-Faktoren ausgeliefert sieht. Rechtlich maßgeblich für die Definition der Fluchtgründe ist nach wie vor die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) von 1951. Dort wird in Art. 1 Abs. 2 die Flüchtlingseigenschaft einer Person zuerkannt, deren Leben oder Freiheit «wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung» bedroht ist.
Zur eingegrenzten Definition der GFK muss heute ein mit weiteren Kriterien angefüllter Flüchtlingsbegriff hinzutreten, der die Verfolgungsgründe nicht auf individuelle politische Verfolgung reduziert, sondern «alle Arten von Fluchtursachen wie Kriegshandlungen, Hungersnöte, Naturkatastrophen, Klimaveränderungen sowie wirtschaftliche Not und Armut» berücksichtigt. Der Leidensdruck mag sehr subjektiv sein, warum Menschen auf ungüns tige politische, wirtschaftliche, soziale, demographische und ökologische Bedingungen mit Migration reagieren. Objektiv aber verbindet sie die legitime Hoffnung auf ein besseres Leben fern der Heimat. Die in der öffentlichen Diskussion verbreitete Abgrenzung zwischen politisch Verfolgten einerseits und Wirtschaftsflüchtlingen bzw. Armutsmigranten andererseits ist nicht so einfach, wie es scheint. Die daraus abgeleitete moralische Bewertung ist ohnehin in hohem Maße ungerecht.
Im aktuellen deutschen Flüchtlingsrecht ist eine gewisse Flexibilität in der Anerkennung von Fluchtgründen erkennbar. Neben dem eigentlichen Asylrecht nach Art. 16 a GG gibt es den Flüchtlingsschutz (§ 3 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 1 AufenthG) und das Abschiebungsverbot (sog. subsidiärer Schutz; (§ 4 AsylVfG in Verbindung mit § 60 Abs. 2, 3, 5 oder Abs. 7 AufenthG). 6 Damit verknüpft ist eine Ausweitung der Flüchtlingseigenschaft.
1. Das Grundrecht auf Asyl gilt alle in für individuell politisch Verfolgte, d. h. für Personen, die eine staatliche Verfolgung erlitten haben bzw. denen eine solche nach einer Rückkehr in ihr Herkunftsland droht. 2. Weiter gefasst ist der Anwendungsbereich für den Flüchtlingsschutz. Neben den Merkmalen der GFK wird z. B. das Geschlecht als Verfolgungsgrund anerkannt. Außerdem muss die Verfolgung nicht zwangsläufig von einem Staat, sondern kann auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen. Die Rechtsfolgen des Flüchtlingsschutzes sind weitgehend dieselben wie bei der Anerkennung als politischer Flüchtling. 3. Weil auch der Flüchtlingsschutz nach der GFK nicht alle Situationen erfasst, in denen Gefahr für Leib und Leben besteht, wurde der Schutz vor Verfolgung weiterentwickelt. Insbesondere bei drohender Folter, Todesstrafe, unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung sowie anderen konkreten Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit gilt das Abschiebeverbot bzw. der subsidiäre Schutz. Eine Person, bei der ein Abschiebungsverbot festgestellt wurde, erhält eine einjährige, verlängerbare Aufenthaltserlaubnis. Bei wem auch dies nicht festgestellt wurde, kann eine Duldung erhalten.
Aus ethischer Perspektive bleibt festzuhalten: Flüchtlinge sind unfreiwillige Migranten, also Menschen, die gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen. Der Wandel von Fluchtursachen macht es notwendig, den Anwendungsbereich für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaften weiter zu fassen als bei der traditionellen Anerkennung als politisch Verfolgter üblich. Das Problembewusstsein für bisher vernachlässigte Menschenrechtsverletzungen muss geschärft und «das Gespür für Verfolgungsgründe» verfeinert werden. Zum Teil ist dies ja bereits geschehen. Die strittigste Frage wird allerdings sein, ob Not ein für das Asylrecht oder den Flüchtlingsschutz hinreichender Fluchtgrund ist. Dafür spricht, dass Leib und Leben nicht nur durch Verfolgung, Folter etc. bedroht wird, sondern auch durch Armut und Hunger. Überdies dürfte klar sein, dass es letztlich auch in diesem Fall um elementare Daseinsansprüche und damit um Menschenrechte geht. Die Frage wird also nicht sein, ob Deutschland sich mit seinem individuellen Asylrecht übernommen hat, sondern wie die weltweite Staatengemeinschaft auf die Realität der eklatanten Menschenrechtsverletzungen und die krass ungleichen Lebensverhältnisse reagieren kann. Immer gefährlichere Wege werden in Kauf genommen, um dem Elend zu entfliehen und nach Europa zu gelangen. Statt sich durch rigide Maßnahmen vor ihnen abzuschotten und sie in die «Illegalität» zu zwingen, wird es vor allem aus menschenrechtlicher Sicht immer vordringlicher, weitere Möglichkeiten auszuloten, wie Menschen legal zuwandern können. Relativ einfach dürfte es sein, Kriterien und Quoten für diejenigen zu definieren, von denen der hiesige Arbeitsmarkt profitiert. Eine Willkommenskultur wird hier durch nationale Egoismen gesteuert. Das aber reicht nicht, denn eine ganz andere normative Herausforderung stellen die Millionen Menschen dar, die sich nicht utilitaristisch vereinnahmen lassen, weil sie schlicht auf unsere Hilfe angewiesen sind, wenn sie vor den Toren Europas ums nackte Überleben kämpfen. Aus dem unbedingten Hilfegebot für diese Notleidende ergibt sich gleichzeitig der Auftrag, die Fluchtursachen in den Herkunftsländern zu bekämpfen und sich dort redlich für bessere Lebensperspektiven einzusetzen.
3. Die Einschränkung des Flüchtlingsschutzes durch den Asylkompromiss von 1993
Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass Differenzierungen und Kategorisierungen auf ethischen Vorentscheidungen beruhen und ethisch relevante Konsequenzen haben. Das Spannungsfeld zwischen dem Anspruchsrecht auf Zutritt durch (politisch) Verfolgte und dem berechtigten Eigeninteresse (souveräner) Staaten, diesen zu reglementieren, lässt sich nicht leugnen. Die Forderung, vermeintliche Flüchtlingsströme eindämmen zu können, bildete auch den Hintergrund für die Diskussion um die deutsche Asylpolitik Anfang der 1990er Jahre.
Drittstaatenregelung und Dublin-Verordnung Nachdem seit Ende der 1980er Jahre die Asylbewerberzahlen in Deutschland stark anstiegen, verfestigte sich in Politik und Öffentlichkeit die Auffassung, dass die «Flut» von Asylbewerbern nur durch eine Änderung des Grundgesetzes zurückgedrängt werden kann. Mitte 1993 wurde schließlich Art. 16 a in das Grundgesetz aufgenommen und das Asylverfahrensgesetz novelliert. In ethischer Hinsicht bestand die wichtigste Neuregelung darin, dass nicht mehr allein der Fluchtgrund, sondern auch der Fluchtweg das Asylverfahren bestimmt. Auf das Asylrecht kann sich seitdem nicht mehr berufen, wer aus einem als sicher eingestuften Herkunftsland oder wer über einen sog. sicheren Drittstaat eingereist ist (Art. 16 a Abs. 2 GG). Da Deutschland nur von sicheren Staaten umgeben ist, kann hier eine Anerkennung als Asylberechtigter nur erhalten, wer auf dem Luft- oder dem Seeweg kommt oder bei dem der Fluchtweg nicht eindeutig zu klären ist (Schleuserproblematik). Dies ist auch der Grund, warum die Bedeutung des Flüchtlingsschutzes und die Feststellung des subsidiären Schutzes zugenommen haben. Die Drittstaatenregelung gilt hier nämlich nicht. Der Schutz nach Art. 16 a GG ist faktisch nicht mehr relevant. Nicht einmal für ein Prozent der Asylsuchenden und Flüchtlinge wird dieser gewährt.
Zudem schuf der Gesetzgeber mit Art. 16 a Abs. 5 GG «die nationale Grundlage für eine Asylrechtsharmonisierung in Europa». Sie ermöglichte die Ratifizierung der Dublin-Verordnung. In dieser sind die Kriterien und Verfahren bestimmt, welcher EU-Staat für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist. Damit soll erreicht werden, dass die Asylantragstel lung innerhalb der EU nur in einem Land und nicht parallel oder nacheinander in verschiedenen Staaten erlaubt ist. Für viele Asylsuchende in Deutschland hat dies zur Konsequenz, dass ihr Asylantrag nicht bearbeitet wird und stattdessen die Rückschiebung in ein anderes EU-Land ansteht. Fazit: Mit der staatenübergreifenden Regelung der «sicheren Drittstaaten » und der sicheren Herkunftsländer wurde die Inanspruchnahme des deutschen Asylverfahrens erschwert bzw. nahezu verunmöglicht. Die Ausrichtung auf eine europäische Kooperation reduzierte «die asylrechtliche Schutzverantwortung der Bundesrepublik Deutschland auf eine Teilverantwortung».
Europäisches Grenzmanagement Der Anspruch der EU-Mitgliedsstaaten die Kontrolle über die Flüchtlingsbewegungen zu behalten, hat den Aufwand für das Grenzmanagement steigen lassen. Zudem wurden über Rücknahmeabkommen, Mobilitätspartnerschaften und Nachbarschaftspolitik Staaten außerhalb der EU in die «Flüchtlingsabwehr» miteingebunden. Die Folge ist, dass es auch für politisch Verfolgte kaum noch möglich ist, auf legale Weise das Territorium der EU zu erreichen. Dies hat wiederum zur Konsequenz, dass sich immer mehr Menschen in die Hände von verbrecherischen Schlepperbanden begeben, um es doch nach Europa zu schaffen.
Das grundlegende ethische Problem besteht somit in der zunehmenden Verlagerung des Verfahrens vom Rechtsweg auf rein polizeiliche Maßnahmen. Im Mittelpunkt steht nicht mehr die Frage, wie ein Ort der Zufl ucht geschaffen und Menschen zu ihrem Recht verholfen wird, der Fokus ist auf Abschreckung, Kontrolle und baldige Abschiebung gerichtet.
4. Der bleibende Anspruch des Menschenrechts auf Asyl
Auch wenn es gravierenden Einschränkungen unterworfen wurde, beruht das deutsche und damit verknüpft das europäische Asylrecht immer noch auf anspruchsvollen normativen Voraussetzungen. Art. 16 a Abs. 1 GG gewährt politisch Verfolgten weiterhin das Recht auf Asyl. Auch die «Drittstaatenregelung » muss sich daran messen lassen. Sie kann und darf nur bei Flüchtlingen angewendet werden, die aus einem Drittstaat kommen, in dem die GFK, die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und damit rechtsstaatliche Mindestanforderungen gelten und angewendet werden. In der Praxis zeigen sich jedoch in den einzelnen Mitgliedsstaaten deutliche Unterschiede in der Handhabung des Asylrechts und in der Gewährung von Flüchtlingsschutz. Einige EU-Länder führen kein angemessenes Asylverfahren durch und bringen die Flüchtlinge nicht in angemessener Weise menschenwürdig unter. So haben der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) untersagt, dass Flüchtlinge nach Griechenland zurückgeschickt werden, weil dort ihre nach EU-Normen vorgesehene Behandlung nicht gewährleistet ist. Die Gerichte haben deutlich gemacht: Der unbedingte Schutz der Menschenwürde hat Priorität vor der Frage, wer wo zum ersten Mal europäischen Boden betreten hat. Damit wurden die Rechte von Flüchtlingen gestärkt. Eine weitere notwendige Konsequenz aber wäre, dass ihr Rechtsschutz deutlicher garantiert und die Einspruchsmöglichkeiten gegen eine Abschiebung verbessert werden.
Auch an den europäischen Außengrenzen sind Flüchtlinge keine rechtlosen Personen. So sind z. B. «Push-back-Operationen» verboten, in denen auf hoher See Flüchtlingsboote zurückgedrängt werden, ohne zu prüfen, ob den Betroffenen dann Menschenrechtsverletzungen drohen. Der EGMR hat nachdrücklich daran erinnert, dass bei Maßnahmen zum Schutz der EUAußengrenzen die Menschenrechte unbedingt beachtet werden müssen. Eine weitere normative Voraussetzung der europäischen Flüchtlingspolitik ist, dass sich die EU-Mitgliedsländer als ein solidarischer Raum verstehen, in dem die Lasten angemessen verteilt werden. Auch diese Annahme hält dem Realitätstest nicht stand. Die Solidarität unter den EU-Ländern ist auch deshalb gering, «weil diejenigen EU-Länder, die keine Außengrenzen haben und damit mit weniger Flüchtlingen konfrontiert sind, weder bereit sind, die Länder, die die Hauptlast tragen, angemessen finanziell zu unterstützen, noch ihnen bestimmte Flüchtlingskontingente abzunehmen.» Die Diskussion darüber ist mittlerweile in Gang gekommen. Allerdings muss beachtet werden, dass es bei der institutionalisierten Verteilung von Menschen nicht zu neuerlichen Menschenrechtsverletzungen kommt.
5. Das Recht auf Teilhabe: Integration fördern statt abschrecken
Über die zugangsrechtlichen Aspekte hinaus stellt sich aus sozialethischer Perspektive die Frage, welche Zukunftsperspektiven Menschen gegeben werden, die sich als Flüchtling und Asylbewerber in Deutschland «aufhalten». Auch hier müssen wir mit einem ernüchternden Befund beginnen. Das deutsche Asylverfahren will die Integration und Inklusion von Flüchtlingen eher behindern als fördern. Die Annahme ist, Asylsuchende halten sich nur für einen kurzen Zeitraum in Deutschland auf, nämlich solange die Fluchtgründe in ihrem Heimatland bestehen. Echte Integrationsmaßnahmen würden die Rückkehrbereitschaft eher konterkarieren. So hat der Gesetzgeber im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylLG) festgelegt, dass es während eines zügig durchgeführten Asylverfahrens nicht erforderlich ist, weitergehende Leistungen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu bewilligen. Die Leistungen nach dem AsylLG sind daher im Vergleich zur Sozialhilfe deutlich abgesenkt.
Im Hinblick auf die Menschenwürde muss jedoch die Frage erlaubt sein, ob die Sicherung des Existenzminimums nicht auch dann gewährleistet sein muss, wenn keine dauerhafte Perspektive für einen Aufenthalt in Deutschland besteht. So hat das BVerfG in seinem Urteil vom 18. Juli 2012 zum Asylbewerberleistungsgesetz unmissverständlich festgestellt. «Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren». Dazu zählt auch, dass Sprachkurse angeboten werden und Jugendliche die Gelegenheit erhalten, eine Schulausbildung zu absolvieren. Erwachsene Personen sollten möglichst früh durch eigene Arbeit ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können. Es darf nicht hingenommen werden, wenn Menschen «jahrzehntelang unter prekären bzw. provisorischen Bedingungen, was ihren Aufenthaltsstatus, ihre Staatsangehörigkeit und ihre ökonomische Stellung betrifft, leben». Inakzeptabel ist es, Flüchtlinge von einer Duldung auf die nächste zu verweisen und dadurch in ständiger Unsicherheit zu halten. Es gibt so etwas wie ein «Recht auf verlässlichen Aufenthaltsstatus».
Dass bei den Verantwortlichen gegenwärtig ein Umdenken stattfindet, zeigt sich daran, dass im Mai 2015 die Rahmenbedingungen zur Arbeitsaufnahme von Asylsuchenden geändert wurden. Jugendliche Flüchtlinge haben nun die Chance, eine Ausbildung abzuschließen. Außerdem ist erwachsenen Asylbewerbern nach einem dreimonatigen Aufenthalt zumindest ein nachrangiger Zugang zum Arbeitsmarkt gestattet.
Anders als zur Zeit des Asylkompromisses vor über zwanzig Jahren ist auch die Stimmung in der deutschen Bevölkerung nicht nur von Abgrenzung geprägt. Grund hierfür sind wohl nicht zuletzt die modernen Kommunikationsmedien, die das Elend und die Menschenrechtsverletzungen unmittelbarer in unsere Haushalte transportieren. So gibt es inzwischen zahlreiche bürgerschaftliche Initiativen, die sich für Flüchtlinge einsetzen und sich bewusst die Förderung einer Willkommenskultur auf ihre Fahnen schreiben. Sie wollen damit dazu beitragen, dass Personen, die in unserem Land Schutz suchen, «mit Freude und offenem Herzen empfangen werden». Der Schutz von Flüchtlingen wird heute viel stärker als etwas wahrgenommen, zu der uns die Menschlichkeit verpfl ichtet. Ferner wird die Hilfe und Unterstützung nicht nur als Belastung, sondern auch als Chance begriffen, wenngleich in Teilen der Bevölkerung immer noch Überfremdungsängste, Ausländerfeindlichkeit und verstärkt Islamophobie festzustellen ist. Zu einer positiven Veränderung in der Wahrnehmung hat sicherlich auch Papst Franziskus beigetragen, als er bei seinen Auftritten auf Lampedusa und beim Europäischen Parlament an die Europäer appelliert hat, von Flüchtlingsschutz nicht nur zu reden, sondern ihn auch zu praktizieren. Mit eindrücklichen Worten knüpft er an die Tradition der Kirche an, die seit Jahrzehnten weiß, dass ihr Platz an der Seite der Flüchtlinge ist: «Die Migranten stellen für mich eine besondere Herausforderung dar, weil ich Hirte einer Kirche ohne Grenzen bin, die sich als Mutter aller fühlt. Darum rufe ich die Länder zu einer großherzigen Öffnung auf, die, anstatt die Zerstörung der eigenen Identität zu befürchten, fähig ist, neue kulturelle Synthesen zu schaffen.»
Der Appell des Papstes steht im engen Zusammenhang mit dem biblischen Aufruf zur Gastfreundschaft und zum sorgsamen Umgang mit dem Fremden. Fremde zu Freunden machen – das ist wohl die schönste und höchste Form des Asylrechts in der einen Weltschicksalsgemeinschaft. Die Pfl ege einer freundschaftlichen Beziehung zu den Fremden wäre dann Überstieg und Vollendung der Gerechtigkeit, um die sich die Sozialethik ja vordringlich bemüht. Bis zur Verwirklichung dieser christlichen Utopie sollten wir freilich alles daran setzen, dass möglichst jeder Mensch das erlebbare Recht bekommt, tatsächlich unveräußerliche Rechte zu haben.
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Unsere neue Dienstleistung für Verlage, die Ihr Abogeschäft in gute Hände geben wollen.
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