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Direktor der Katholische Akademie in Berlin e.V.
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Professorin für Dogmatik an der Universität Luzern
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Professor für dog-
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Dipl.-Theologe, Musiker

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Leseprobe 3 DOI: 10.14623/com.2017.6.655–663
Hans Maier / Tobias Mayer / Christian Stoll
DIE BUNDESTAGSWAHL 2017 UND DIE CHRISTEN
Ein Gespräch mit Hans Maier zu den politischen Verschiebungen der Gegenwart
Wir dokumentieren hier ein Redaktionsgespräch mit dem Herausgeber und Gründungsmitglied dieser Zeitschrift, Hans Maier, Politologe und ehemaliger Staats minister für Unterricht und Kultus in Bayern – und seit gut 40 Jahren Mitglied der CSU. Das Gespräch führten Tobias Mayer und Christian Stoll.

Herr Professor Maier, am 24. September 2017 fand die Wahl zum 19. Deutschen Bundestag statt. Würden Sie sagen, es war eine historische Wahl?


HANS MAIER: Einiges war unerwartet. Das Wahlergebnis widersprach ja den Voraussagen der Demoskopen. Das kommt häufig vor, aber in diesem Fall hat es doch erstaunt, dass der vorausgesagte Mehrheitsgewinn der Union ausgeblieben ist, im Gegenteil, sie ist abgefallen, aber auch die SPD hat verloren. Das Parteiensystem hat sich weiter pluralisiert – eine Tendenz seit 20 Jahren. Dem künftigen Bundestag werden sieben Parteien angehören, die Kleinen sind größer geworden, die Großen kleiner. Das ist also auf der einen Seite eine Fortsetzung eines kontinuierlichen Prozesses. Aber zugleich ist es ein Absturz der Parteien, die die Große Koalition getragen haben. Wenn man sich die Ergebnisse anschaut: Die Große Koalition hätte noch eine satte Mehrheit; dagegen hätte Schwarz-Gelb, das war 2009 die Alternative zur ersten großen Koalition, keine Mehrheit; also bleibt «Jamaika». Wirklich neu ist, dass die Unionsparteien so unerwartet stark abgesunken sind.

Alarmiert Sie das nicht?

Natürlich kann man die Sache auch ganz nüchtern betrachten: Noch ist die Union die stärkste Partei, noch haben die Volksparteien eine Mehrheit, noch hat sich die Nachkriegsstabilität des deutschen Parteiensystems fortgesetzt – wir hatten die wenigsten Regierungschefs in Europa. Aber es gibt doch zugleich auch Verwerfungen. Ich würde nicht soweit gehen, das Wahlergebniss als historische Zäsur anzusehen, aber es ist eine partielle Kontinuität mit starken Abbrüchen.

Es ist ein Kennzeichen der Diskontinuität, dass im kommenden Deutschen Bundestag eine rechtspopulistische Partei vertreten sein wird. Wie tief ist dieser Einschnitt?


Im Anfang des deutschen Bundestages hatten wir ja rechte Parteien – ich vermeide den Ausdruck rechtsradikal – sogar in der ersten Regierung Adenauer mitvertreten: die Deutsche Partei; dann den Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE), dessen Programm auch einige extreme Züge hatte. Also das ist nicht völlig neu. Wenn man die Bundesländer hinzunimmt: Da kam später die NPD, dann die Republikaner, aus einer ganz anderen, linken Ecke die Piraten; die Grünen haben lang geschwankt zwischen einer radikal-demokratischen, gegen Parteien gerichteten direktdemokratischen Orientierung und einer stärkeren Neigung zum Mitregieren, die heute offenbar durchgeschlagen ist. Denn wenn man die künftigen Größen der «Jamaika-Koalition» im Fernsehen sieht, dann fällt doch auf, die Grünen und die FDP wollen regieren. Das Problem an «Jamaika» ist das Verhältnis der beiden Unionsparteien. Da fürchte ich, dass wir noch unangenehme Überraschungen erleben werden. Möglicherweise ist eine Einigung mit FDP und Grünen einfacher als zwischen den Unionsparteien.

Zunächst nochmal zum Erstarken der AfD: Wenn man das Phänomen im europäischen Maßstab sieht, könnte man in einem gewissen Sinne von einer Normalisierung sprechen, da ja in fast allen europäischen Ländern ähnliche Parteien vertreten sind. Glauben Sie, dass das so bleiben wird?


Es ist ja immer schwierig, den richtigen Begriff zu finden. «Rechtspopulismus» hat sich inzwischen durchgesetzt, für Phänomene wie den Front National, die Freiheitliche Partei Österreichs, ja selbst die Schweizerische Volkspartei kann man dazu rechnen. Wenn man da manche Parolen liest, ist man erstaunlich an die AfD erinnert. Von Osteuropa will ich gar nicht reden. Kaczyńskis Partei, die PiS, geht ganz in diese Richtung, ebenso Orbán. In einer von Terrorismus und immer noch sich ausweitenden Kriegen geschüttelten Welt gibt es eine starke Zunahme des diktatorialen Elements, der Gewaltgeneigtheit und -bereitschaft, und das spiegelt sich selbst in den demokratischen Ländern. Bei der AfD sind sicher viele, die einfach protestieren. Sie ist ja ursprünglich eine von rebellierenden Volkswirten gegründete Partei gegen den Euro, die sich dann immer mehr ausgeweitet hat. Die Flüchtlingskrise gab ihr die Möglichkeit, eine «große Nummer» zu ziehen. Je mehr die Große Koalition einen humanitären und – wie ich finde – vernünftigen Kurs einschlug, desto härter brachte die AfD den Protest einer relativ großen Bevölkerungsgruppe zum Ausdruck. Wenn die Probleme allerdings gelöst werden, wird auch die AfD wieder – wie schon NPD und Republikaner – absinken. Aber sie ist relativ groß und sie erfährt Zuspruch aus dem Osten. Es gibt eine noch nicht geheilte Entfremdung zwischen Ost und West, die offensichtlich länger braucht und nicht einfach mit Worten geheilt werden kann; das kommt ihr zugute. Immerhin hat die AfD in Sachsen Direktmandate bekommen. Das ist für mich ein Alarmzeichen.

Die AfD hat aber, überraschender Weise, auch in Bayern sehr gut abgeschnitten. Herrscht in Bayern eine Sondersituation? Wie konnte diese Partei hier so stark werden?

Die CSU hat sich, nach meiner Meinung, zu stark dem Lager der AfD genähert in der Absicht, die AfD damit unnötig zu machen. Aber es zeigt sich, wenn man – zumindest sprachlich – einiges von einem Gegner übernimmt, dann bleibt das nicht ohne Folgen. Zweitens hat in Bayern der Streit der Unionsparteien sehr viele Wähler verprellt. Ich weiß, dass vor allem kirchlich orientierte, evangelische und katholische Wähler zornig waren. Es hat sich dann auch eine Pro-Merkel Initiative gegründet. Ich selber gehörte dazu, aber es ging hauptsächlich von Theo Waigel und Alois Glück aus und reichte sehr stark in kirchliche, gemeindliche Kreise hinein. Ich lebe im Münchener Süden, hier hat die CSU nicht nur Wähler an die AfD, sondern auch an die FDP verloren. Man hat bei der CSU früher immer bayerische Liberalität vorausgesetzt, und dass die geschwunden ist in der Auseinandersetzung Seehofer–Merkel, das hat viele verprellt!

Auch nach der Wahl scheint die Devise der CSU zu sein, die von der AfD bespielten Positionen nun selbst abzudecken und die «rechte Flanke» (Horst Seehofer) der CSU zu schließen. Kann das gutgehen?

Das ist eine wichtige Frage in der Zukunft. Ich sagte vorhin schon, wenn man die Probleme löst, die zum Teil von der AfD nicht neu artikuliert, aber eben gesteigert in der Öffentlichkeit vorgetragen wurden, also einmal das Flüchtlingsproblem, dann überhaupt das Problem der Einwanderung – und ich bin unbedingt für ein Einwanderungsgesetz –, dann wird die AfD auch wieder zurückgehen. Denn die nationalistischen und zum Teil auch rassistischen Parolen, die sind eigentlich in Deutschland, hoffe ich, nicht mehrheitsfähig. In der Hinsicht schrecken uns die Spuren des Dritten Reiches, und das ist gut so, wir tun uns da leichter als die Franzosen. Aber selbst die Franzosen haben im letzten Moment dem Front National ihre Zustimmung entzogen.

Wie angespannt ist das Verhältnis innerhalb der beiden Unionsparteien?

Die Unionsparteien sind aus dem Bedürfnis entstanden, erstens gegen den Nationalsozialismus eine wirklich umfassende flächendeckende neue Partei zu schaffen, also das Feld nicht allein den Sozialdemokraten zu überlassen, und das haben Adenauer und andere wirklich geschafft. Wenn man die Bilanz sieht, so ist die deutsche Nachkriegspolitik in zwei Dritteln, fast drei Vierteln der Jahre von Unionspolitikern gestaltet worden. Von den acht Bundeskanzlern waren fünf Unionskanzler. Also man kann sagen, diese neue, nicht angemeldete Partei, die fast aus dem Nichts kam, eine «Nova» im Parteienhimmel, die hat doch die Nachkriegspolitik sehr stark gestaltet. Und jetzt haben wir die bittersten Auseinandersetzungen zwischen CDU und CSU erlebt, an die ich mich erinnern kann. Das, fürchte ich, wird nicht ohne Folgen bleiben, zumal es sich abgespielt hat in einem Feld, wo eigentlich die christliche Humanität sich besonders hätte bewähren müssen, nämlich im Feld der Flüchtlingspolitik. Also das Verhältnis war noch nie so angespannt wie jetzt.

Nimmt man die Wahl zum Anlass, grundsätzlich auf die Rolle der Katholiken in der Bundesrepublik zu schauen, könnte man fragen: Wie katholisch ist die deutsche Politik?


Die Katholiken haben ja durchaus eine stabile Stellung in der Öffentlichkeit, auch numerisch, also wenn Volker Rühe nach der Wiedervereinigung sagte, Deutschland wird jetzt nördlicher, östlicher, protestantischer, so war das eine Fehlanzeige. Denn es wurde weder protestantischer noch christlicher – das Christentum hat eher abgenommen. Aber Katholiken und Evangelische stellen immer noch den größten Teil der Bevölkerung, knappe zwei Drittel, mehr im Westen und Süden. Die Katholiken sind sogar etwa eine Million stärker als die Protestanten. Aber dieses numerische Plus hat sich schon in den letzten Regierungen kaum abgezeichnet. Wo sind die Katholiken im Bundeskabinett? Da fällt mir gegenwärtig nur Peter Altmaier ein. Die meisten sind evangelisch oder konfessionslos. Das ist doch erstaunlich. Viele Katholiken sind auch ausgeschieden: etwa Friedrich Merz, Annette Schavan, noch einige Andere, so dass also im Augenblick die Union, schon in der dritten Regierung Merkel, eigentlich hauptsächlich von Protestanten repräsentiert wurde. Darin spiegelt sich ein sozialer Wandel.

Es gibt ja den politischen Katholizismus im alten Sinne nicht mehr. Er ist ein Erzeugnis des Kulturkampfs im 19. Jahrhundert, der Gründung der Zentrumspartei. Im Grunde hat ihn schon Adenauer auf dem Münchner Katholikentag 1922 relativiert. Er sagte damals, wir müssen mit den Evangelischen zusammenkommen, sonst wird es nie eine christliche Mehrheit in der Weimarer Demokratie geben. Das ist dann nach dem Krieg tatsächlich geschehen. Die Union, der Name sagt es schon, ist eine Union der Katholiken und der Protestanten. Die Katholiken haben auf ihre spezifische Repräsentation im Zentrum verzichtet.

War das ein Fehler?

Die Katholiken haben, ich sag es jetzt mal zugespitzt, so viel Katholisches untergebracht in der deutschen Nachkriegspolitik, dass sie eigentlich auf eine spezifische Repräsentation verzichten konnten. Mindestens meinten sie (meinte auch ich), dass man jetzt darauf verzichten könnte. Das «überpositive Recht» (man nannte es nicht mehr Naturrecht, um die Protestanten nicht herauszufordern) hat in unserem Grundgesetz ja wirklich eine zentrale Stellung. Es gibt eben unveränderliches Verfassungsrecht. Das wäre früher unter der Dominanz evangelischer Staatsrechtslehrer nicht möglich gewesen. Oder ein anderes Beispiel: Das Subsidiaritätsprinzip war eine katholische Spezialidee bis in die 60er/70er Jahre hinein, dann hat es in der europäischen Integration Kariere gemacht, weil man ja nach einem Bild suchte, wie das künftige Europa einzuordnen sei: kein Bundesstaat, dafür fehlten zentrale Fundamente, aber auch mehr als ein Staatenbund. Das deutsche Bundesverfassungsgericht spricht inzwischen von einem Staatenverbund und in diesem Verbund ist seit Maastricht das Subsidiaritätsprinzip ein anerkannter politischer Grundsatz. Keine Institution soll über das hinaus gehen, was sie selber leisten kann, das nennt man inzwischen in der europäischen Rechtssprechung «Kompetenzanmaßung». Da ist das Subsidiaritätsprinzip also beinahe in ganz Europa anerkannt.

Und ich könnte noch anderes Katholisches nennen: Den Föderalismus zum Beispiel, der früher von den protestantischen Staatsrechtslehrern durchwegs abgelehnt wurde. Er schien ein katholisches Sonderidiom zu sein, aber heute erfreut er sich doch allgemeiner Anerkennung, und man kann auch manche Konflikte (etwa in Katalonien) nur mit föderalistischen Maßnahmen lösen. Kurzum: Es hat sich nach dem Krieg eine Verschiebung vollzogen. Katholisches ist gewissermaßen in die Verfassung eingegangen und in die allgemeine politische Kultur, und dafür hat der politische Katholizismus im engeren Sinne an Boden verloren und sich schließlich ganz aufgelöst. Trotzdem empfinde ich es als unangemessen, dass im Augenblick die Katholiken sichtbar in der Regierung kaum noch vertreten sind. Das muss sich wieder ändern und wird sich auch wieder ändern.

Ist die politische Kultur noch konfessionell geprägt – oder hat die Ökumene die Konturen verwischt?

Zunächst ein Wort zum Stand der Ökumene: Ich halte es nicht für glücklich, dass Kardinal Woelki im Augenblick wieder Differenzen zwischen Katholizismus und Protestantismus hervorhebt und vor allem gegen den Begriff ‹Versöhnte Verschiedenheit› polemisiert (gemeint ist ein Beitrag für die Oktober-Ausgabe der Herder Korrespondenz; Anm. d. Red.). Ich gebe ihm Recht, wenn er sagt, Verschiedenheiten sind geblieben und man darf sie nicht einfach verschweigen oder unter den Teppich kehren. Ich gebe ihm aber nicht Recht, wenn er das auf die Menschen bezieht. Es wäre vielleicht besser gewesen, man hätte statt dem Begriff ‹Versöhnte Verschiedenheit› von ‹Versöhnten Verschiedenen› gesprochen. Protestanten und Katholiken haben sich daran gewöhnt, sich anders anzusehen als früher, nicht mehr als Konkurrenten oder gar als Feinde, sondern als Verwandte im Geist, sogar als Brüder. In der Änderung der Karfreitagsliturgie im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil kommt das zum Ausdruck: Früher sahen sich die Protestanten unter dem Stichwort «Irrgläubige» subsumiert, heute sind sie unter denen, «die an Christus glauben». Sie werden angeredet als Brüder, getrennte Brüder, aber Brüder.

Kurzum: Ich sage, man muss die Unterschiede zwischen katholischer und protestantischer Kirche und Theologie nicht leugnen, man soll aber das neugewonnene, freundschaftliche, verständnisvolle Verhältnis nicht trüben. Das ist doch ein großer Gewinn! Wir haben gerade ein Reformationsjahr hinter uns, das historisch das erste war, das nicht deutsch-national und nicht antikatholisch gefeiert wurde. Das ist bedeutsam, denn alle anderen bis 1617 zurück waren deutsch-national, anti-römisch, anti-katholisch. Das hat sich geändert und das muss erhalten bleiben. Das darf man nicht durch den berechtigten Hinweis auf die verbliebenen Unterschiede relativieren oder gar zunichte machen.

In dem erwähnten Beitrag von Kardinal Woelki ist von einer konfessionellen Differenz im Blick auf wirtschafts- und sozialpolitische Fragen die Rede. Gibt es so etwas?

In Fragen wie der Abtreibung und der Sterbehilfe gibt es beachtliche Unterschiede. Das hängt einfach damit zusammen, dass der Protestantismus keine Lehreinheit ist und schon gar nicht eine Lehreinheit, die ins Soziale und Politische übergreift. Enzykliken sind nach wie vor im Protestantismus unmöglich. Und damit muss man leben, das muss man anerkennen, das kann aber kein Vorwurf sein. Wenn ich sehe, der Andere ist anders, muss ich ihn zunächst einmal gelten lassen und darf also nicht den Akzent darauf legen, «du musst erst anders werden, wenn ich mit dir ein dauerhaftes Verhältnis aufbauen soll.» Also da kommt sehr viel auf Psychologie, Takt und Rücksicht an.

Aber in der Wirtschafts- und Sozialpolitik… Nein, da sehe ich keine Differenz. Die soziale Marktwirtschaft ist in Freiburg von evangelischen Gelehrten: Walter Eucken, Constantin von Dietze, Adolf Lampe, Franz Böhm entwickelt worden. Ich habe das selber noch erlebt. Ich habe drei der vier noch persönlich gekannt und war mit ihnen verbunden. Und damals wurde mir völlig klar, dass hinter dieser sozialen Marktwirtschaft (der Ton liegt auf sozial) eben ein protestantisches Ethos stand, ein Ethos des Verzichts. Das ist wieder anders im Calvinismus, den Max Weber ja nicht ganz ohne Grund dem modernen Kapitalismus sehr angenähert sah. Aber zum Beispiel dieser Teil der Nachkriegspolitik, der ist weitgehend von evangelischen Gelehrten geschaffen worden.

Wir haben bisher vor allem über die Unionsparteien gesprochen. Ist das politische Spektrum des deutschen Katholizismus nicht inzwischen pluraler?

Als Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken konnte ich das deutlich beobachten. Unmittelbar nach dem Krieg, bei dem neu gegründeten Zentralkomitee, da waren Zentrum und Union unter sich, dann kam spektakulär als erster Sozialdemokrat Georg Leber hinein, weitere Nicht-Unionsleute folgten. Wenig hat sich geändert bei der FDP, da ist immer noch eine gewisse Distanz. Dagegen die Grünen: Da gibt es überzeugte, praktizierende Katholiken. Also auch das parteipolitische Bild ist bunter geworden.

Kann man angesichts der Pluralisierung des politischen Meinungsspektrums auch unter Katholiken überhaupt noch so etwas wie Leitlinien einer christlichen Politik identifizieren – etwa in der Flüchtlingspolitik?

In einigen Feldern, aber es sind nicht allzu viele, ist das Christliche sozusagen herausgefordert, sich zu artikulieren. Die größte Herausforderung dieser Art sehe ich in der Flüchtlingsfrage. Da sind es vor allem katholische Politiker, die betonen: Das ist kein momentaner Unfall, das deutet auf eine längerfristige Herausforderung hin – zugespitzt gesprochen: Man ist nicht ungestraft reich, friedlich, gesichert in einer Welt, die eben arm, unfriedlich, ungesichert ist, und darauf muss man eine Antwort haben. Also Gerd Müller, mit dem ich freundschaftlich sehr verbunden bin, er war mein Junge-Unions-Vorsitzender im Stimmkreis Günzburg, er hat, glaube ich, da den richtigen Ton angeschlagen. Er hat einen «Marshallplan für Afrika» ins Gespräch gebracht. Man muss vor Ort versuchen, die Verhältnisse zu verbessern, sonst wird man auf die Dauer einer neuen Völkerwanderung nicht ausweichen können. Also da, glaube ich, tut sich etwas, allerdings innerhalb einzelner Gruppen und Gemeinden und Personen, nicht so sehr im Gesamten der Unionsparteien. Im Gegenteil, über diese Frage, die sie gemeinsam hätte herausfordern müssen, haben die Unionsparteien in einer unwürdigen Weise gestritten und ich führe auch einen Teil ihrer Verluste darauf zurück, dass die Wähler das nicht goutiert haben. Eine Partei, die sich christlich und sozial, christlich und demokratisch nennt, die kann nicht gleichzeitig sagen: «Wer für Familiennachzug ist, liegt voll daneben.» Das ist einfach widersinnig, und da fürchte ich, dass der Geist der Union, der uns nach dem Krieg wirklich geleitet hat, dass der angefochten wird und dass da ein Bruch nicht nur in der politischen Überlieferung, sondern auch im Zusammenhalt der Union folgen wird.

Werfen wir noch einen Blick auf Europa: Immer wieder, gerade auch in rechtspopulistischen Kreisen, ist die Rede vom «Europa der Vaterländer» – was halten Sie davon? Ist das eine verständliche Forderung, oder doch eine Abkehr vom europäischen Geist?


Ich habe die Anfänge der europäischen Integration ja noch im Gedächtnis und im Ohr. Als ich 1951 anfing zu studieren, war das die Zeit, in der Robert Schuman seinen berühmten Plan der Montanunion verkündete. Das war ja zunächst einfach ein Sprung aus der alten Politik der «Faust-Pfänder», die damals auch noch in der französischen Zone und vor allem im Saarland praktiziert worden ist, in eine Zusammenarbeit, wobei Schuman so argumentierte: Frankreich will sich gegen eine kommende Aufrüstung Deutschlands sichern. Eine Aufrüstung wird am Frühesten bemerkt in den Bereichen «Kohle» und «Stahl». Wenn man das unter eine gemeinsame Verwaltung stellt, dann entgeht es weder den Franzosen, wenn die Deutschen hundert Panzer bauen wollen, noch den Deutschen, wenn die Franzosen den Auftrag für hundert Jagdflugzeuge geben. Also ein gemeinsames Dach, und dann ist den Anfängen der Militarisierung gewehrt. Eine großartige Idee. Von Anfang an ging die Montanuion über eine Zweitstaatenlösung hinaus, es konnten andere beitreten, also es war europäisch angelegt.

Unter de Gaulle ging das noch mal zurück in das Europa der Vaterländer, der Begriff stammt ja von ihm, während Churchill in dieser Hinsicht weitblickender in seiner Zürcher Rede 1946 von einem «Bundesstaat Europa» gesprochen hat. Kühn! Allerdings: England sollte draußen bleiben, seiner Meinung nach. Churchill war schon damals ein Brexit-Mann.

Wenn man heute also sagt, «Zurück zum Europa der Vaterländer », dann verkennt man völlig, dass sich auf vielen Gebieten längst «zweckverbandliche» Strukturen gebildet haben. Das heißt praktisch für die Regierungstechnik, dass ein Ministerialrat im Bundeskanzleramt ohne weiteres einen im französischen Ministerrat anrufen kann – und umgekehrt. Und es gibt ja auch eine Fülle gemeinsamer Vorschriften. Es wird jetzt nach dem Brexit wohl auch ein europäisches Sozialgesetzbuch geben, das ist ja bislang nur von den Briten verhindert worden.

Also längst sind wir über das «Europa der Vaterländer» hinaus. Diese Losung ist, ähnlich wie «Deutschland den Deutschen», nicht nur falsch, sie geht auch völlig an der Realität vorbei.

Wird man in Zukunft noch von einem «christlichen Europa» sprechen können? Oder ist diese Redeweise vielleicht gar nicht mehr sinnvoll?


Von außen sehen uns ja manche als Christen, ich nenne z.B. Erdogan. Er spricht immer von der «Christen-Union» und da meint er die Europäische Union. Und daran ist sicher richtig, dass die europäische Kultur so stark von christlichen, zum Teil auch von jüdischen Vorgaben geprägt worden ist, dass man mit aller Vorsicht und in einem rein kulturellen Sinn von einem christlichen Europa auch heute noch sprechen kann. Aber ich betone, in einem kulturellen, nicht mehr in einem religiösen Sinn. Aber Europa ist auch in dieser Hinsicht vielgestaltig. Wir hätten ja beinahe die Anrufung Gottes, die invocatio Dei, auf Antrag von Erwin Teufel in der europäischen Menschenrechtsdeklaration untergebracht. Da kam das Veto von Jaques Chirac aus Frankreich, der hat Helmut Kohl angerufen und gesagt: «Geht nicht! Wir sind ein État laïc!» … Aber der Laizismus, das würde ich doch mit aller Vorsicht sagen, ist in Europa nicht mehr die einzige, und vor allem nicht mehr die einzig demokratiegemäße Option.

Herr Professor Maier, wir danken für das Gespräch!

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