archivierte Ausgabe 1/2019 |
   |
      |
 |
Herausgeber und Redaktion |
 |
JOACHIM HAKE Direktor der Katholische Akademie in Berlin e.V. |
  |
URSULA SCHUMACHER
Professorin für Dogmatik an der Universität Luzern |
  |
JAN-HEINER TÜCK Professor für dog-
matische Theologie, Universität Wien |
 |
Herausgeber und Redaktionsbeirat stellen sich vor. |
 |
|
Lesermeinung von |
Anton Svoboda,
Dipl.-Theologe, Musiker
Lesen Sie hier |
 |
|
|
|
 |
|
|
|
|
Leseprobe 3 |
DOI: 10.14623/com.2019.1.66–79 |
|
Wolfgang Thierse |
RELIGION IN PLURALISTISCHER GESELLSCHAFT UND WELTANSCHAULICH NEUTRALEM STAAT |
 |
Je moderner eine Gesellschaft, desto säkularer werde sie. Das war lange Zeit die – beinahe selbst religiöse – Überzeugung in den westlichen Gesellschaften, jedenfalls unter den liberal «Aufgeklärten». Säkularisierung im Sinne des Verschwindens, wenigstens des Zurückdrängens von Religion, sei ein irreversibler Prozess. Dieser Glaube ist, wenn nicht gänzlich widerlegt, so doch erschüttert: Religion ist am Beginn des 21. Jahrhunderts von überraschender, kräftiger und dabei wahrlich widersprüchlicher Vitalität. Das gilt sogar für das globale Christentum, das – wie vergleichende Untersuchungen zeigen – weltweit besonders intensiver Verfolgung ausgesetzt ist. Man muss ja nicht unterdrücken und verfolgen, was nicht Lebenskraft hat, was nicht als stark empfunden wird! Religion ist also Teil der Moderne. Der Religiöse ist offensichtlich nicht einfach unmoderner als der Areligiöse.
Diese unübersehbare Tatsache widerspricht durchaus der Erwartung von Säkularisten verschiedenster Spielart. Und sie gilt nicht nur für unseren Globus insgesamt, sondern auch für Europa und selbst für Deutschland, von dem wir fast täglich die Behauptung hören und lesen können, es sei ein säkulares Land geworden. Aber alle Zahlen – vom Zensus bis zum Religionsmonitor – zeigen etwas anderes: Etwa 30% Protestanten und 30% Katholiken (Tendenz weiter sinkend), ca. 5% Muslime, ca. 5% Angehörige anderer Religionsgemeinschaften, über 30% Konfessionslose leben in Deutschland. Die Ex-DDR, also Ostdeutschland war und ist neben Tschechien das religionsloseste Land auf dem Globus: der einzige durchschlagende «Erfolg» des SED-Regimes. Zu den Ergebnissen des Monitors gehört auch: 85 % der Menschen meinen, man solle gegenüber allen Religionen offen sein. Zugleich aber sieht eine Mehrheit in der zunehmenden religiösen Vielfalt auch ein Potential für Konflikte. Und gerade in jüngster Zeit empfinden viele insbesondere den Islam als Gefahr, mindestens als Quelle von Beunruhigung.
Solche Zahlen sind gewiss interpretationsbedürftig, aber lassen sich doch in dem Urteil zusammenfassen: Wir leben nicht einfach in einer säkularen Gesellschaft, sondern in einer religiös und weltanschaulich pluralen Gesellschaft. So wie auch Religionen selbst (ebenso wie Agnostizismus und Atheismus) individualistischer und also pluraler verstanden und gelebt werden. Es gibt nicht den einen, den religiösen oder areligiösen Deutungsrahmen sozialen und individuellen Lebens. Traditionen werden schwächer, Bindungen lockerer, Autoritäten haben weniger Wirkung. Das schafft eine Situation der Unübersichtlichkeit und der Unsicherheit. Genau dies aber, diese religiös-weltanschauliche Pluralität ist eine anstrengende Herausforderung für die Gesellschaft insgesamt. Eine anstrengende Herausforderung für Religiöse wie für Religionslose gleichermaßen. Toleranz ist gefragt, Respekt, Anerkennung, damit Pluralismus friedlich gelebt werden kann. Das aber ist alles andere als selbstverständlich.
Man erinnere sich an die weltanschaulichen und religiösen Konflikte in den letzten Jahren: Streit um Moscheebauten, Streit um Kopftücher und Kruzifixe oder die Auseinandersetzung um Beschneidung. Und schauen wir ringsum, dann erscheint Religion (mindestens in Form des islamistischen Fundamentalismus) als geradezu gefährliche, demokratiefeindliche Kraft. Die Reaktionen auf die brutalen Morde in Paris – ein Akt extremster Intoleranz – waren durchaus zwiespältig: Verteidigung von Meinungsfreiheit hier – Protest gegen Blasphemie anderswo. Und dann auch noch Köln, Ansbach, Würzburg, Chemnitz, Köthen, Dortmund (und welche deutsche Stadt soll ich noch nennen?). Wir ahnen, wir beobachten, dass sich – nicht nur weit weg, sondern auch in unseren Ländern – kulturelle und religiöse Konflikte häufen und verschärfen.
Was ist passiert, was geschieht gegenwärtig? Treten wir einen Schritt zurück.
Es ist erst 29 Jahre her: Die friedliche Revolution, die Überwindung des Ost-West-Systemkonflikts, die Vereinigung Deutschlands und die Überwindung der Spaltung Europas. Und wir erleben schon wieder eine neue, dramatische Wendung der Geschichte. Hunderttausende Flüchtlinge sind nach Europa, nach Deutschland gekommen – eine Bewegung, die vermutlich anhalten wird und die manche von einer neuen Völkerwanderung sprechen ließ. Sie trifft auf ein verunsichertes, zerstrittenes Europa, Deutschland darin eingeschlossen. Keiner weiß genau, wie viele und welche Veränderungen diese Entwicklung bewirken wird, vermutlich aber werden die Wirkungen der nun nicht mehr zu leugnenden Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist, viel folgenreicher sein als die der Wiedervereinigung. Und die Reaktion auf die Migrationsbewegung spaltet ja auch Europa insgesamt auf eine die europäische Zukunft durchaus gefährdende Weise.
Wir bemerken jedenfalls, dass unsere Gesellschaft sich durch Migration stark verändert. Sich auf diese Veränderung einzulassen, ist offensichtlich eine anstrengende Herausforderung, erzeugt Misstöne und Ressentiments und macht vielen Einheimischen Angst, vor allem unübersehbar und unüberhörbar im östlichen Deutschland. Pegida ist dafür ein schlimmes Symptom, die Wahlerfolge der AFD (wohl auch der FPÖ) sind ein anderes. Vertrautes, Selbstverständliches, soziale Gewohnheiten und kulturelle Traditionen: Das alles wird unsicher, geht gar verloren. Individuelle und kollektive Identitäten werden infrage gestellt; durch das Fremde und die Fremden, die uns nahegerückt sind; durch die Globalisierung, die offenen Grenzen, die Zuwanderer, die Flüchtlinge. Die Folge sind soziale Abstiegsängste und «Entheimatungsbefürchtungen», die sich in der Mobilisierung von Vorurteilen, in Wut und aggressivem Protest ausdrücken. Genau das ist unsere demokratische Herausforderung und sie ist politisch-moralischer Art: Dem rechtspopulistischen, rechtsextremistischen Trend, der sichtbar stärker und selbstbewusster geworden ist, zu begegnen, zu widersprechen, zu widerstehen. Es geht dabei ganz wesentlich um eine kulturelle Auseinandersetzung (und eben nicht nur um ein sozial-ökonomisches Konfliktgeschehen).
Denn darauf also müssen wir uns einstellen: Unser Land wird dauerhaft pluralistischer, also ethnisch, religiös und kulturell vielfältiger und widersprüchlicher werden. Der Pluralismus nimmt zu in einer entgrenzten Welt, in einer Welt der Menschen- und Fluchtbewegungen, der globalen Arbeitsteilung und der globalen Kommunikation und der weltweiten Kulturbegegnungen. Dieser Pluralismus wird keine Idylle sein, sondern steckt voller politisch-sozialer und religiös-kultureller Konfliktpotentiale. Und es ist nicht sicher, wir können jedenfalls nicht sicher sein, dass zunehmende Vielfalt den sozialen Zusammenhalt tatsächlich befördert und nicht doch eher gefährdet. Wie wir mit diesen Konflikten umgehen, das entscheidet über die Zukunft unserer Freiheit (die Religionsfreiheit eingeschlossen)!
Das ist der Hintergrund, vor dem ich ein paar Bemerkungen machen will über das Verhältnis von Religion und pluraler Gesellschaft, von Kirche und säkularem Staat, zum Christsein in der Einwanderungsgesellschaft, von Freiheit und Toleranz. Und ich spreche – noch einmal will ich das betonen – auf der Grundlage der Erfahrungen, Probleme und Debatten in Deutschland.
I
Für die Verhältnisse eines «verschärften» Pluralismus scheint mir der Rahmen, den das deutsche Grundgesetz bietet, sehr passend. Seit 1919 (seit der Weimarer Verfassung) hat Deutschland keine Staatskirche oder Staatsreligion. Nur in den 40 Jahren DDR gab es eine Art von Staats-Ersatzreligion, hat sich der Staat als sinn- bzw. ideologiestiftende Instanz definiert. Die Folge war eine weltanschauliche Erziehungsdiktatur, die zum Glück gescheitert ist. Die Bundesrepublik Deutschland ist geprägt durch ein besonderes Verhältnis von Staat und Kirche – und unterscheidet sich darin sowohl von Frankreich wie von den skandinavischen Ländern wie z. B. auch von den USA. Der Staat des deutschen Grundgesetzes ist weltanschaulich neutral, er verficht selbst keine Weltanschauung, um so die Religionsfreiheit seiner Bürger zu ermöglichen. Man hat dieses Verhältnis von Staat und Kirche als ein Verhältnis der «respektvollen Nichtidentifikation» bezeichnet. Durch diese Zurückhaltung gibt der Staat ausdrücklich Raum für die starken Überzeugungen seiner Bürger, die die Zivilgesellschaft prägen und damit auch den Staat tragen. Er ist also kein säkularistischer Staat, also auch kein Staat der einen säkularen Humanismus vorzieht und fördert und Religion aus der Öffentlichkeit verdrängt. So wünschen es Laizisten und auch eine Mehrheit der veröffentlichten Meinung: Die Religionen, die Kirchen sollen sich gefälligst zurückhalten. Eine bekannte deutsche Schriftstellerin hat vor einiger Zeit die Forderung an die Religionsgemeinschaften gerichtet, «die Säkularität des Landes zu achten». Mit Blick auf einen tatsächlich oder vermeintlich integrationsunwilligen Islam formuliert sie: «Wenn die religiösen Ansprüche der Muslime mit dem Gleichheitsgebot des Grundgesetzes kollidieren, müsste man … die Privilegien der christlichen Kirchen beschränken, um den Zugriff des Islam auf das öffentliche Leben von uns allen zu verhindern.» Eine paradoxe Argumentation: Die Angst vor dem Islam wird gegen alle (öffentliche) Religion gerichtet. Ich vermute, das ist eine verbreitete Stimmung. [...]
Lesen Sie den kompletten Artikel in der Printausgabe.
|
|
|
|
|
|
|
Unsere neue Dienstleistung für Verlage, die Ihr Abogeschäft in gute Hände geben wollen.
|

mehr
Informationen
|
 |
|
Bücher & mehr |
|
|