archivierte Ausgabe 2/2019 |
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Herausgeber und Redaktion |
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JOACHIM HAKE Direktor der Katholische Akademie in Berlin e.V. |
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URSULA SCHUMACHER
Professorin für Dogmatik an der Universität Luzern |
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JAN-HEINER TÜCK Professor für dog-
matische Theologie, Universität Wien |
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Herausgeber und Redaktionsbeirat stellen sich vor. |
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Lesermeinung von |
Anton Svoboda,
Dipl.-Theologe, Musiker
Lesen Sie hier |
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Leseprobe 1 |
DOI: 10.14623/com.2019.2.149–158 |
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Hans Schelkshorn |
DIE OBSESSION DER GRENZÜBERSCHREITUNG |
Zur Krise der Moderne1 |
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In der westlichen Weltöffentlichkeit breitet sich seit Längerem eine apokalyptische Stimmung aus. Völlig unterschiedliche Ereignisse wie das Schmelzen der arktischen Eismassen, die Exzesse des Finanzsystems oder die Infragestellung moderner Demokratie durch einen neuen Autoritarismus werden zumindest unterbewusst als Vorboten einer umfassenden Krise des modernen Weltsystems wahrgenommen. Gewiss, die Klage über Ambivalenzen der Moderne bestimmt die Aufklärung seit ihren Anfängen. Während Turgot und Condorcet das 18. Jahrhundert als das «Zeitalter der Vernunft» priesen, sah bereits Jean-Jacques Rousseau gerade im Zivilisationsprozess die Quelle fortschreitenden Unglücks. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert deckten Marx und neomarxistische Schulen die Widersprüche zwischen den Idealen der Aufklärung und der Logik kapitalistischer Marktwirtschaft schonungslos auf. Im Umfeld des 2. Weltkriegs etabliert sich in der europäischen Philosophie in den Spuren von Nietzsche eine machttheoretische Kritik der Moderne, in der die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts und die ökologische Krise nicht mehr auf die mangelnde Verwirklichung von Vernunft, sondern auf ein der Aufklärung selbst inhärentes Machtsyndrom zurückgeführt werden. Während Martin Heidegger den Machtwillen des neuzeitlichen Subjekts bei Descartes2 festmacht, sehen Horkheimer und Adorno den Ursprung der aktuellen Krise bereits bei Francis Bacon angelegt. «Trotz seiner Fremdheit zur Mathematik hat Bacon die Gesinnung der Wissenschaft, die auf ihn folgte, gut getroffen […] Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Natur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt.»3
Machttheoretische Deutungen decken zwar die Bedrohungspotentiale der Moderne in schonungsloser Weise auf. So warnte etwa Heidegger bereits in früher Zeit vor den Gefahren der Humangenetik und der industrialisierten Landwirtschaft. Zugleich stellt jedoch eine radikale Modernekritik die Menschheit vor die Situation, einen jahrtausendelangen Aufklärungsprozess zu stoppen, um den Sturz in den kollektiven Abgrund zu vermeiden. Nachdem die Geschichte der abendländischen Vernunft in toto disqualifiziert worden ist, bleibt jeweils im Dunkeln, mit welcher Vernunft die Menschheit noch einen Ausweg aus der epochalen Sackgasse suchen kann. Eine machttheoretische Kritik der Moderne droht daher in das trübe Fahrwasser einer antimodernistischen Politik abzudriften und ist wohl nicht zufällig immer wieder von fundamentalistischen oder (neo-)faschistischen Bewegungen für ihre Zwecke instrumentalisiert worden.
Vor diesem Hintergrund habe ich versucht, mit dem Leitbegriff der «Entgrenzung» einen neuen theoretischen Rahmen zu entwerfen, in dem sowohl die epochalen Errungenschaften als auch die abgründigen Bedrohungspotentiale der Moderne angemessen analysiert werden können. In zentralen Bereichen der Moderne ist offenbar eine Dynamik permanenter Grenzüberschreitung wirksam. So sprechen wir noch immer, wenn auch inzwischen mit einem zunehmenden Unbehagen, von einem «grenzenlosen» Fortschritt der Wissenschaften, einem «grenzenlosen» ökonomischen Wachstum oder der kosmopolitischen Überwindung ethnischer und nationaler Grenzen. In den spezifisch neuzeitlichen Entgrenzungen ist jeweils ein bestimmtes Verständnis von «Grenze» leitend, das den Hauptsträngen der europäischen Philosophie bis ins späte Mittelalter hinein, aber auch außereuropäischen Kulturen, weithin fremd ist. Am Wandel des Begriffs der «Grenze» und den daraus entspringenden Entgrenzungen lassen sich, wie im Folgenden an einzelnen Beispielen kurz illustriert werden soll, die Ambivalenzen der Moderne, genauer das Ineinander von Rationalitätsgewinnen und kulturellen bzw. exzessiven Dimensionen, sei es in moderner Wissenschaft, neuzeitlicher Ethik oder der modernen Marktwirtschaft, in neuer Weise aufschließen.
1. Ein dreifacher Prozess von Ent-grenzungen: Ein Blick in die Ursprünge der Moderne in der Philosophie der Renaissance
Das komplexe Spiel von Entgrenzungen, das die Signatur der Moderne bis heute prägt, ist vor allem durch drei Motivkomplexe, die weitgehend unabhängig voneinander zunächst in der Philosophie der Renaissance aufgebrochen sind, in Gang gekommen: (a) die Entgrenzung des ptolemäischen Weltbildes durch Kopernikus; (b) die Entgrenzung der essentialistischen Anthropologie durch die Idee der Selbstkreation; (c) die Entgrenzung der antiken Vorstellung der «Ökumene» durch die transozeanische Expansion Europas im 15. Jahrhundert.
a) Die astronomische Revolution und ihre Folgen
Die kopernikanische Wende zählt ohne Zweifel zu den spektakulären Durchbrüchen europäischer Aufklärung, die über den Bereich der Kosmologie hin aus tiefgehende Veränderungen im kulturellen Leben der frühen Neuzeit auslöste. Der Grund für die weit reichenden Umwälzungen durch die neue Astronomie liegt in der inneren Struktur des geozentrischen Weltbildes, das seit Platon und Aristoteles in einer teleologischen Deutung des Kosmos eingebettet ist. Die antike Vorstellung eines begrenzten Universums beruht nicht allein auf lebensweltlichen Erfahrungshorizonten, sondern auf bestimmten ontologischen Prämissen. Denn für Aristoteles ist, was für die Bürger der Moderne nicht unmittelbar einsichtig ist, das Universum begrenzt, weil es vollkommen ist. Das Vollkommene ruht, wie Aristoteles betont, stets in seinem Ziel (telos), das wiederum als Grenze (peras) zu verstehen ist.4 Das Unbegrenzte (apeiron) ordnet Aristoteles hingegen dem potentiell Unendlichen zu, dem entweder noch etwas hinzugefügt werden oder das durch unendlich viele Operationen geteilt werden kann. Dies bedeutet: In dem von Platon und Aristoteles geprägten Denken der griechischen Antike wird Grenze (peras) nicht als etwas Negatives gedacht, etwa als Einschränkung oder als Anzeichen eines Mangels, der überwunden werde müsste, sondern als Verwirklichung sämtlicher Seinsmöglichkeiten (telos, energeia).5
Die teleologische Ontologie bildet in der Antike nicht nur für die Kosmologie, sondern für sämtliche Bereiche der Wirklichkeit das normative Fundament, auf dem auch die Erkenntnislehre, die Anthropologie, die Moralphilosophie, die politische Philosophie und auch die Ökonomie aufruhen. So wie sich die Suche nach Wahrheit nicht im grenzenlosen Erkennen nach immer neuen Gegenständen verliert, sondern im Ursprung des Ganzen (arche panton) ihre Grenze findet, so ist nach Aristoteles auch der menschlichen Praxis eine Grenze gesetzt, nämlich durch die Glückseligkeit (eudaimonia) im Sinne der Verwirklichung der höchsten Fähigkeiten des Menschen. In dieser Perspektive findet nach Aristoteles auch das grenzenlose Streben der Leidenschaften durch die Ethik des Maßes (mesotes) seine Grenze nicht im Sinne der Mittelmäßigkeit, sondern der Vollkommenheit. Die grenzenlose Akkumulation von Geld muss hingegen durch die Lehre vom Reichtum als Mittel für das gute Leben begrenzt werden. Nicht zuletzt bildet die Lehre, dass jedes Seiende, auch der Mensch, sein Telos bzw. seine Grenze erreichen kann, d. h. zur Ruhe kommen kann, die Grundlage für das antike Ideal der Seelenruhe, das in der hellenistisch-römischen Zeit sämtlichen Philosophenschulen, selbst der Lustlehre Epikurs, als Kriterium der Glückseligkeit zugrunde liegt.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die astronomische Revolution in der frühen Neuzeit zunächst nicht durch astronomische Beobachtungen, sondern durch eine Revision der aristotelischen Ontologie ausgelöst worden ist. Neben der nominalistischen Bewegung, die Gott die Freiheit der Erschaffung völlig anderer Welten einräumt, möchte ich hier vor allem auf die Unendlichkeitsspekulation von Nikolaus von Kues verweisen.6 Unter dem Einfluss des Neuplatonismus denkt Cusanus absolute Vollkommenheit gerade nicht als telos bzw. peras, sondern als absolute Unendlichkeit, d.h. als völlige Abwesenheit von Grenzen bzw. als Zusammenfall von Gegensätzen (coincidentia oppositorum). Aus der neuen Philosophie des Absoluten zieht Cusanus die Konsequenz, dass nicht nur das einzelne Seiende, sondern auch das Universum als Ganzes seine Vollkommenheit nur in unendlichen Annäherungen, d. h. niemals vollständig erreichen kann. Auf diesem Weg gelangt Cusanus noch vor Kopernikus zur Vorstellung eines grenzenlosen Universums, in dem die Erde plötzlich als ein edler Stern unter anderen Sternen erscheint.
Da die teleologische Ontologie im antiken Denken für sämtliche Seinsbereiche die normativen Strukturen vorgibt, musste die Veränderung der ontologischen Fundamente unumgänglich eine Kettenreaktion auslösen. Im frühneuzeitlichen Denken lässt sich folglich beobachten, wie die Destruktion des antiken Begriffs von Grenze als Zustand der Vollkommenheit in verschiedenen Bereichen durch die Idee einer permanenten Grenzüberschreitung abgelöst wird. Bei Cusanus selbst treten die Auswirkungen der neuen Ontologie – neben der Kosmologie – vor allem in der Erkenntnislehre hervor. Dem grenzenlosen Universum korrespondiert bei Cusanus die Idee eines unabschließbaren Erkenntnisprozesses. Cusanus vollzieht daher im christlichen Kontext eine epochal bedeutsame Aufwertung unersättlicher Weltneugier (curiositas), die nach Hans Blumenberg ein zentrales Merkmal der Moderne darstellt.7 Denn im römischen und frühchristlichen Denken wurde die unersättliche curiositas, die gegen die Ethik des Maßes und das Ideal Seelenruhe verstößt, einerseits im Namen der Sorge um das Vaterland (Cicero), andererseits im Namen der Heilssorge (Augustinus), zurückgedrängt. Insofern die Bejahung des grenzenlosen Wissensdrangs die ethische Disqualifikation der «Unersättlichkeit» relativiert, konnte die Aufwertung der curiositas nicht ohne Auswirkungen auf die Moral bleiben. Zwei Jahrhunderte nach Cusanus definiert Hobbes in offener Abgrenzung zu Aristoteles die Glückseligkeit als «ein ungehindertes Fortschreiten zu immer weiteren Zielen.»8
b) Die anthropologische Idee der Selbstkreation
In der Philosophie der Renaissance kommt es auch im Bereich der Anthropologie zu einer revolutionären Wende. Zwar lassen sich die historischen Wurzeln der Kritik am Essentialismus der griechischen Anthropologie bis zu den Kirchenvätern zurückverfolgen. Doch erst die Anthropologie der Renaissance spricht dem Menschen in der Lehre von der Gottebenbildlichkeit nicht nur eine Teilhabe an der göttlichen Vernunft, sondern auch an der göttlichen Schöpferkraft (vis creativa) zu.9 So wie Gott die Dinge aus dem Nichts erschafft, so erschafft der menschliche Geist (mens) – so bereits Nikolaus von Kues in Idiota de mente – die Begriffs- und Sprachwelten aus sich selbst.10 Nach Manetti manifestiert sich die vis creativa des Menschen vor allem in seinen kulturellen und technischen Leistungen.11 Pico della Mirandola schließlich bezieht in der berühmten Oratio de hominis dignitate (1486/87) die schöpferische Macht des Menschen auf die menschliche Natur. Im Unterschied zu allen anderen Kreaturen, deren Wirkungskreis jeweils durch ein festes Gesetz begrenzt ist, ist nach Pico dem Menschen von Gott die Freiheit gegeben, «frei von allen Einschränkungen» sich selbst jene Natur zu geben, die er bevorzugt.12 Auch wenn der Mensch als freier Gestalter und Bildner seiner selbst («plastes et fictor sui ipsius») angesprochen wird, so bleibt bei Pico die schöpferische Freiheit noch in einen neuplatonischen Stufenkosmos eingebettet. Die hierarchische Ordnung der Lebensformen mündet in die mystische Einheit mit Gott; Picos Aufwertung der vis creativa vermeidet ausdrücklich die Selbstvergottung des Menschen. Auch die Idee einer genetischen Manipulation der menschlichen Natur lag noch vollkommen außerhalb seines Vorstellungsvermögens. Denn der Mensch ist nach Pico nicht Gestalter seiner physischen, sondern ausschließlich seiner zweiten Natur, d.h. der selbst gewählten Lebensformen.
Doch bereits bei Montaigne gerät der normative Rahmen, in dem Picos Philosophie der Freiheit noch eingebettet war, in den Sog einer radikalen Skepsis. Inmitten einer nicht nur räumlich, sondern auch normativ entgrenzten Welt verwandelt sich, wie Montaigne in den Essais vorführt, Picos Idee einer Selbstkreation in das unabschließbare Projekt einer experimentellen Selbsterkundung bzw. Selbstgestaltung. Was bei Montaigne noch vorsichtig angedeutet bleibt, wird bei Nietzsche offen proklamiert. Nietzsche fordert uns auf, «unsere eigenen reges [Könige] zu sein und kleine Versuchsstaaten zu gründen. Wir sind Experimente und wollen es auch sein.»13 Die unendliche Vielfalt der Welt wird spätestens bei Nietzsche zum Stoff für die Kreation neuer Lebensformen.
In der materialistischen Aufklärung wird schließlich auch die physische Natur zum Objekt der vis creativa. La Mettrie spekuliert bereits über Manipulationen der physischen Konstitution des Menschen.14 Die ideengeschichtlichen Wurzeln der modernen Humangenetik liegen daher in einer radikalen Reinterpretation und Extension der christlichen Aufwertung der schöpferischen Freiheit des Menschen in der Renaissance durch die materialistische Philosophie der Neuzeit.
c) Entgrenzung der Oikumene und ihre Folgen
Neben der kopernikanischen Wende ist die Entdeckung Amerikas zu Recht immer wieder als Großereignis für die Genese der Moderne angesehen worden. Die transozeanische Expansion Europas ist allerdings von vornherein in eine tiefe Ambivalenz eingetaucht. Denn die Fahrten von Vasco da Gama und Kolumbus legten zwar den Grundstein für die neuzeitliche Rationalisierung des geographischen Weltbildes, eröffneten jedoch zugleich die blutige Epoche des Kolonialismus und Imperialismus, der über zahllose Völker dieser Erde unsagbares Leid brachte. Aus diesem Grund ist Kolumbus zu einem Symbol für die Zweideutigkeit der modernen Obsession der Grenzüberschreitung geworden.15
Wie die kosmologische Entgrenzung, so hat auch die transozeanische Expansion Europas zu tiefgreifenden Veränderungen in zahlreichen Bereichen der frühneuzeitlichen Kultur geführt. Der Grund für die vielschichtigen Transformationen liegt in der Struktur antiker geographischer Weltbilder, in der die Idee der Ökumene aufs Engste mit politischen Vorstellungen, insbesondere der Weltreichsidee, verbunden ist, die wiederum ethische und anthropologische Vorstellungen, allen voran den Begriff des «Barbaren», enthält. Vor diesem Hintergrund stellte die Erweiterung des geographischen Weltbildes, wie sich bereits in den Kolonial-Debatten des 16. Jahrhunderts zeigt, tiefsitzende ethische, anthropologische und politische Konzeptionen in Frage. Die Schule von Salamanca, die sich als erste philosophische Bewegung dem frühneuzeitlichen Globalisierungsprozess stellt, legt daher wichtige Fundamente für den spezifisch modernen Kosmopolitismus.16 Inmitten von Kolonialismus und millionenfachem Sklavenhandel kommt es daher in der europäischen Philosophie zu einem beachtlichen Fortschritt im moralischen Bewusstsein, nämlich zum Durchbruch zu einer globalen Ethik, in der die unsägliche aristotelische Doktrin von den Barbaren als natürlichen Sklaven, die auch im christlichen Denken des Mittelalters noch nachwirkte, endgültig zurückgewiesen wird. Während die Hoftheologen von Karl V. die Neue Welt noch in die traditionelle Weltreichsidee integrierten, legten Francisco de Vitoria und Bartolomé de las Casas bereits die Fundamente für das moderne Völkerrecht und eine universale Menschenrechtsethik. Die Ausweitung des geographischen Weltbildes löst darüber hinaus auch eine radikale Entgrenzung des moralisch-politischen Horizonts aus. Die politische Natur des Menschen verwirklicht sich, wie Vitoria gegenüber Aristoteles betont, nicht in den engen Grenzen der Polis, sondern in einer globalen Kommunikationsgemeinschaft mit einem globalen Reiseund Handelsrecht und einem großzügigen Niederlassungs- und Bürgerrecht. Vitoria verbindet daher den ethischen Universalismus mit der Utopie einer kommunikativen Weltgesellschaft, in der die territorialen Grenzen und Barrieren zwischen den Völkern systematisch abgebaut werden. Zugleich treten bei Vitoria allerdings auch die Ambivalenzen der neuzeitlichen Entgrenzungen hervor. Denn die Idee einer Weltgesellschaft ruht bei Vitoria noch auf einem christlichen Naturrecht auf, das Christen ein einseitiges Missionsrecht zuspricht. Da jede Grenzüberschreitung zugleich neue Grenzen aufrichtet, ist der neuzeitliche Prozess einer politischen Institutionalisierung des ethischen Universalismus bis heute durch soziale Kämpfe geprägt, in denen gleichsam in bestimmter Negation Exklusionsmechanismen aufgebrochen werden.
2. Von Bacon zu Locke: Entfesselung von Wissenschaft und Technik und die Idee eines grenzenlosen ökonomischen Wachstums
Die skizzierten Motivkomplexe einer kosmologischen, anthropologischen und geographisch-politischen Entgrenzung fließen in die theoretischen Grundlegungen moderner Wissenschaft, Politik und Ökonomie, wie sie in der Philosophie des 17. Jahrhunderts erarbeitet worden sind, ein. Dies soll abschließend am Beispiel von Francis Bacon, dem Begründer der experimentellen Naturwissenschaft, und John Lockes Rechtfertigung der Geldwirtschaft kurz dargestellt werden.17
Bacon radikalisiert in seiner Grundlegung moderner Wissenschaft zunächst die Idee eines grenzenlosen Universums, wie sie bereits bei Cusanus entworfen worden ist. Die Natur ist nach Bacon eine Werkstatt mit einer unüberschaubaren Fülle an verborgenen Qualitäten und Kräften, die nur durch menschliche Interventionen, d. h. durch Experimente, freigesetzt werden können. Das Ziel der Wissenschaft besteht daher nicht mehr allein in der Erforschung der Ursachen, sondern zugleich in der Hervorbringung neuer Dinge. Kurz: Die unersättliche Weltneugier verbindet sich mit der Vision einer grenzenlosen Entfesselung der produktiven Potentiale von Natur und Mensch, die nach Bacon die Menschheit als ganze auf eine neue Stufe heben wird. John Locke hingegen verbindet Bacons Konzept eines grenzenlosen wissenschaftlich-technischen Fortschritts mit einer ökonomischen Analyse, in der die Grenzen der aristotelischen Ökonomik, die allein der Versorgung der Familie bzw. des Haushalts (oikos) und der Polis dient, überwunden werden. Aristoteles hatte die grenzenlose Geldwirtschaft (Chrematistik) – nicht den geldvermittelten Tausch an sich –, als irrationale Idee zurückgewiesen. Locke hingegen legt im Second Treatise of Government eine philosophische Begründung grenzenloser Geldwirtschaft vor, die allerdings nicht eine simple Rationalisierung des Irrationalen vornimmt, auch nicht eine Umwertung von Lastern in Tugenden. Lockes Denken baut vielmehr auf naturrechtlichen Prämissen auf, in der die Ökonomik um den Begriff der «Arbeit», die bei Aristoteles noch den Sklaven zugeordnet war, erweitert wird. Vor allem jedoch baut Lockes Rechtfertigung grenzenloser Geldwirtschaft auf der Baconschen Wissenschaft auf. Die Idee eines grenzenlosen wirtschaftlichen Wachstums korrespondiert Bacons Konzept eines unüberschaubaren Reichtums der Natur, der durch Wissenschaft und Technik erschlossen wird. Trotz aller sachlichen Nähe kommt es jedoch bei Locke zugleich zu einer fatalen Abkehr von Bacon. Denn Lockes Arbeitstheorie des Eigentums leitet eine gefährliche Abwertung der immanenten Produktivität der Natur ein, die in der modernen Ökonomie zu einer fatalen Ausblendung der Natur als Produktionsfaktor führt.
Lockes Ökonomik verstrickt sich jedoch trotz der Aufwertung der Arbeit in eine gefährliche Aporie. Denn Geld kann zwar als virtuelle Realität unbegrenzt vermehrt werden; die Natur ist hingegen trotz ihrer für uns unabschätzbaren Reichtümer – dies war auch Bacon bewusst – prinzipiell begrenzt. Indem die Natur in die Logik der grenzenlosen Geldvermehrung integriert wird, findet, worauf Christoph Binswanger zu Recht hingewiesen hat, «ein alchimistischer Transmutationsprozeß von Natur (N) in Geld (G) statt, der es dem Menschen – scheinbar – ermöglicht, die Natur zu beanspruchen und doch der Endlichkeit der Natur auszuweichen und die Ökonomie ‹ins Unendliche› auszuweiten.»18 In der gegenwärtigen Entwicklung der Marktwirtschaft, in der das beliebig vermehrbare Geldkapital zur Determinanten des ökonomischen Systems geworden ist, bricht der Widerspruch zwischen der Idee grenzenlosen ökonomischen Wachstums und der Begrenztheit natürlicher Ressourcen in aller Schärfe auf.
3. Schlussbemerkung
Die Menschheit steht heute vor der Aufgabe, inmitten einer Kultur von Entgrenzungen ein neues Verständnis von Maß und Grenze auszubilden. Da die antike Ethik des Maßes Teil eines Weltbildes ist, das nicht mehr wiederhergestellt werden kann, ist der Weg zurück in vormoderne Kulturen der Selbstbegrenzung verbaut. So sind in jedem Subsystem der Moderne sowohl die Chancen als auch die Risiken von Entgrenzungsdynamiken und die Erfordernisse einer Selbstbegrenzung jeweils sorgfältig abzuwägen. Die neoliberale Globalisierung hat in den letzten Jahrzehnten eine soziale Zerklüftung der Weltgesellschaft produziert, die inzwischen in die Kernbereiche westlicher Gesellschaften reicht. Die Entwurzelungen und Marginalisierungen haben weltweit Bewegungen einer autoritären Identitätspolitik auf den Plan gerufen. In Europa und den USA ist ein dichtes Netzwerk rechtspopulistischer Bewegungen entstanden, in denen auch christliche Gruppen engagiert sind. Alain de Benoist, der Vordenker der Nouvelle Droite in Frankreich, beschwört die ethnische Homogenität der antiken Polis und kritisiert die Universalität der Menschenrechte als christlichaufklärerische Ideologie. In diesem Kontext ist gerade für Christen eine Rückbesinnung auf die Schule von Salamanca, die wesentliche Grundlagen für den modernen Kosmopolitismus gelegt hat, ein Gebot der Stunde.19
Die Ideologie grenzenlosen wirtschaftlichen Wachstums muss hingegen durch eine Politik der Nachhaltigkeit abgelöst werden. In dieser epochalen Herausforderung gewinnen ohne Zweifel die Quellen einer antiken Ethik des Maßes neue Bedeutung. Dennoch kann auch die ökologische Krise nicht einfach durch ein Zurück zu vormodernen Morallehren bewältigt werden. Allein um die bereits verursachten ökologischen Schäden abzumildern, bedarf es moderner Wissenschaft und Technik. Aber auch der Aufbau einer nachhaltigen Wirtschaft bewegt sich im Horizont der Baconschen Wissenschaft. Um nur ein Beispiel zu nennen, das sogar von Bacon selbst bereits angedacht worden ist: Die forcierte Nutzung der Sonnenenergie setzt im Sinne Bacons auf die Freisetzung bislang verborgener Kräfte der Natur zum Nutzen des Menschen.
Kurz: Die soziale und ökologische Problemlage der Gegenwart erfordert eine grundsätzliche Umorientierung in unserem Verhältnis zur Natur und zum Anderen. In diesem Kontext ist auf die Enzyklika Laudato si (2015) von Papst Franziskus hinzuweisen, in der die ökologische Krise in systematischer Weise mit der sozialen Frage der gegenwärtigen Weltgesellschaft verknüpft wird. In dieser Perspektive hat bereits kurz nach dem 2. Weltkrieg auch Albert Camus in L’Homme révolté (1951) die Frage der Gerechtigkeit und der Bewahrung der Natur als eine Einheit gesehen. Camus setzte der industriellen Ausbeutung natürlicher Ressourcen ein ästhetisches Verständnis der Natur und der Raserei totalitärer Ideologien die normative Instanz der menschlichen Natur entgegen. In der Suche nach einer neuen Sensibilität für Grenzen wendet sich Camus den Griechen zu, ohne jedoch das teleologische Weltbild zu restaurieren: «Nemesis, die Göttin des Maßes, verderblich den Maßlosen, war das Symbol dieser Grenze. Ein Denken, das die heutigen Widersprüche der Revolte einbeziehen will, müßte seine Inspiration bei dieser Göttin holen.»20
Anmerkungen 1 In diesem Beitrag skizziere ich in äußerst groben Strichen einige Thesen meiner Theorie der Moderne, die ausführlich entfaltet wird in Hans Schelkshorn, Entgrenzungen. Ein europäischer Beitrag zum philosophischen Diskurs über die Moderne, Weilerswist 22016. Eine frühere Version dieses Beitrags erschien in Diakonia. Internationale Zeitschrift für die Praxis der Kirche 41 (2010) 235–242. 2 Nach Heidegger liegt Descartes’ cogito ein volo zugrunde, das die Natur als Ganze, einschließlich der menschlichen Natur, in die Verfügungsgewalt des Menschen stellt. Vgl. dazu Martin Heidegger, Nietzsche, Bd. 2, Stuttgart 1961, 124–171. 3 Max Horkheimer – Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, hg. v. A. Schmidt u. G. Schmid Noerr, Frankfurt/M. 1997, 26. 4 Vgl. dazu Aristoteles, Physik III 6, 207a14–15. 5 Vgl. dazu Augustinus K. Wucherer-Huldenfeld, Zur Erscheinung der Endlichkeit als Grenze. Ein Beitrag zur Atheismus-Forschung und zum Vorverständnis philosophischer Theologie, in: Ders., Ursprüngliche Erfahrung und personales Sein. Ausgewählte philosophische Studien II, Wien – Köln – Weimar 1997, 127f; 129: «An die Grenze kommen heißt Erfüllung, in der Vollendung weilen. In diesem Sinne ist das Endliche Grenze […] Grenze als Innehaben des Telos, des Endes (entelecheia), besagt ein Sichhalten und Bewahren in der Vollendung, das Enthülltsein und Offenbarsein der Anfänglichkeit des Anfangens, des Grundes, worum etwas ist, wird und erkannt wird.» 6 Zu den theoretischen Voraussetzungen der Kosmologie von Nikolaus von Kues und deren Folgen für die Erkenntnisphilosophie vgl. Schelkshorn, Entgrenzungen (s. Anm. 1), 95–162. 7 Hans Blumenberg, Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt/M. 1996, 263–530. 8 Thomas Hobbes, Vom Menschen/Vom Bürger, hg. v. G. Gawlik, Hamburg 1994, 29 (De Homine, XI,15). 9 William J. Bouwsma, The Renaissance Discovery of Human Creativity, in: J.W. O’Malley u.a. (Hg.), Humanity and Divinity in Renaissance and Reformation, Leiden/New York/Köln 1993, 17–34. 10 Vgl. dazu Kurt Flasch, Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung. Vorlesungen zur Einführung in seine Philosophie, Tübingen 1998, 270–317. 11 Giannozzo Manetti, Über die Würde und Erhabenheit des Menschen, übers. v. H. Leppin, hg. v. A. Buck, Hamburg 1990. 12 Pico della Mirandola, De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen, lat./dt., hg. v. G.v. Gönna, Stuttgart 1997, 8: «Tu nullis angustiis coercitus pro tuo arbitrio, in cuius manu te posui, tibi illam praefinies.» Zu Picos Freiheitsverständnis vgl. Schelkshorn, Entgrenzungen (s. Anm. 1), 163–205. 13 Friedrich Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft §453; in: KSA 3,274. 14 Julien Offray de La Mettrie, L’homme machine. Die Maschine Mensch. Französisch-deutsch, übers. u. hg. v. C. Becker, Hamburg 1990, 51/53. 15 Vgl. dazu Hans Schelkshorn, Die «Neue Welt» im verschlungenen Kampf der Bilder. Kolumbus und die Philosophie der Moderne, in: Sergej Seitz – Anke Graness – Georg Stenger (Hg.), Facetten gegenwärtiger Bildtheorie. Interkulturelle und interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden 2018, 213–229. 16 Vgl. dazu ausführlich Schelkshorn, Entgrenzungen (s. Anm. 1), 205–298; Georg Cavallar, The Right of Strangers: Theories of International Hospitality, the Global Community, and Political Justice since Vitoria, Aldershot 2002. 17 Vgl. dazu Schelkshorn, Entgrenzungen (Anm. 1), 411–470 (Bacon), 529–593 (Locke). 18 Christoph Binswanger, Geld und Natur. Das wirtschaftliche Wachstum im Spannungsfeld zwischenÖkonomie und Ökologie, Stuttgart – Wien 1991, 186f. 19 Vgl. dazu Hans Schelkshorn, The Ideology of the New Right and Religious Conservativism. Towards an Ethical Critique of the New Politics of Authoritarianism, in: Interdisciplinary Journal of Religion and Transformation in Contemporary Society J-RaT 4.2: Crisis of Representation (2018), 124–141. 20 Albert Camus, Der Mensch in der Revolte, Reinbek bei Hamburg, 1997, 334.
Abstract The Obsession of Crossing Borders: On the Crisis of Modernity. Based on my study «Entgrenzungen» (Weilerswisst 22016) this article offers some historical sketches about the modern dynamic of crossing borders, which determines almost all fields of modern culture. The process of dis-limitations was mainly inaugurated by three heterogeneous developments in Renaissance philosophy. Firstly, before Copernicus Nicola de Cusa propagated the idea of a limitless universe based on a Neoplatonic speculation of the god as absolute reality where all limitations are dissolved. Secondly theRenaissance philosophy developed the revolutionary idea of human self-creation integrating the vis creative in the doctrine of the image Dei. Thirdly the expansion of the Iberian powers since the 15th century, above all the conquest of America, fostered the spirit of crossing frontiers in order to discover and conquest unknown fields and, not at least, a new cosmopolitanism. The dis-limitations of Renaissance philosophy inspired various intellectual and historical movements of the modern age, including the ideas of unlimited scientific and technical progress and economic growth.
Keywords: Theory of modernity – Renaissance philosophy – anthropology – ethics
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