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Direktor der Katholische Akademie in Berlin e.V.
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Professorin für Dogmatik an der Universität Luzern
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Professor für dog-
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Leseprobe 1 DOI: 10.14623/com.2019.6.601–615
Jan-Heiner Tück
DAS REICH HAT SCHON BEGONNEN
Zur ekklesiologischen Domestizierung des Chiliasmus durch Augustinus
Civitas Dei wird bei Augustin als fast gegenwärtig gefeiert
in der Kirche Christi. Eben ein so gewaltiger Zukunftstraum
wie der vom Tausendjährigen Reich wird der Kirche
aufgeopfert; in ihr soll er bereits erfüllt sein.1

Ernst Bloch

Theologie und Kirche haben im 2. und 3. Jahrhundert den Realismus des Auferstehungsglaubens gegen gnostische Verflüchtigungen entschieden verteidigt. Christus hat die Auferstehung nicht nur simuliert, nicht nur ein Scheinleib ist von den Toten erweckt worden, nein, der Gekreuzigte ist wahrhaft auferstanden! Mit deutlich antignostischer Stoßrichtung ist das Bekenntnis zur resurrectio carnis in nahezu alle altkirchliche Symbola übernommen worden, und Tertullian hat den Realismus des Auferstehungsglaubens in seiner Schrift De resurrectione carnis programmatisch zur Geltung gebracht: Caro cardo saltis – das Fleisch ist der Angelpunkt des Heils. Umso erstaunlicher ist es, dass der Chiliasmus – die Erwartung eines tausendjährigen Friedensreiches auf Erden – nicht in derselben Weise realistisch aufgenommen wurde. Dabei ist von einem tausendjährigen Friedensreich Christi in der Apokalypse des Johannes ausdrücklich die Rede (Offb 20, 1–6) – und namhafte Theologen wie Justin und Irenäus von Lyon, aber auch Tertullian, Hippolyt von Rom und Laktanz haben einen Chiliasmus offen vertreten. Die Vorbehalte gegenüber einer allzu buchstäblichen Lektüre der Offenbarung des Johannes haben indes ebenfalls schon früh eingesetzt. Bereits die alexandrinische Theologie im 3. Jahrhundert ist skeptisch. Origenes favorisiert eine allegorische Auslegung und verwirft die buchstäbliche Lesart als Judaismus. Auch Eusebius von Caesarea, Gregor von Nazianz und andere treten für eine spiritualistische Deutung ein. Der wirkmächtigste Gegner indes ist der hl. Augustinus, der in jungen Jahren selbst Anhänger eines gemäßigten Chiliasmus war.2 Er hat die Vorstellung von einem messianischen Friedensreich auf Erden ekklesiologisch gezähmt. Man kann sein Werk De civitate Dei als wirkmächtigen Versuch einer Domestizierung millenaristischer Erwartungen lesen. Vier Fragen stehen damit im Raum: (1) Woher kommt die Erwartung eines tausendjährigen Zwischenreiches, das mit der Parusie anbrechen soll? (2) Wie ist diese millenaristische Erwartung in der patristischen Theologie rezipiert worden? (3) Warum und mit welchen Argumenten hat Augustinus sie in seinem geschichtstheologischen Hauptwerk De civitate domestiziert, als er die These aufstellte, das Friedensreich Christi sei mit der Zeit der Kirche bereits angebrochen? (4) Wie steht es um die Wirkungsgeschichte von Augustins Domestizierungsversuch angesichts der Tatsache, dass der Chiliasmus in der Geschichte der Kirche an den Rändern immer wieder aufgeflackert ist?

1. Das tausendjährige Zwischenreich in der Geheimen Offenbarung des Johannes

Das letzte Buch der Bibel deckt den verborgenen Sinn der Geschichte auf. In einer Situation der Bedrängnis ruft es zur Treue und Standhaftigkeit im Glauben auf. Nach der Einleitung mit entsprechender Berufungsvision werden in den sieben Sendschreiben (Offb 2, 1–3, 22) konkrete Mahnungen zur Standhaftigkeit im Glauben ausgesprochen, die zunächst den kleinasiatischen Gemeinden, dann aber auch der Gesamtkirche gelten. Nach der Thronsaalvision (Offb 4, 1–5, 14) wird das verborgene Drama der Geschichte sukzessive enthüllt. Allein das geschlachtete Lamm ist würdig, die Siegel des Buches zu öffnen, das den Sinn der Geschichte enthält, wobei die Komposition von drei Plage-Zyklen – sieben Siegel, sieben Posaunen und sieben Zornesschalen – zu einer Steigerung der Dramatik führt. Der agonale Charakter der Geschichte – sie ist Schauplatz des Kampfes zwischen Guten und Bösen – findet ein Ende durch die Offenbarung des neuen Himmels und der neuen Erde.3

Die Geheime Offenbarung ist mutmaßlich während der Regierungszeit von Kaiser Domitian (81–96) verfasst worden, sie bringt den Widerstand der kleinasiatischen Christen gegen das Imperium Romanum und den geforderten Kaiserkult zum Ausdruck. Im Hintergrund steht die dualistische Geschichtsauffassung der Apokalyptik. Theologische Motive sind: 1.) Das geschlachtete Lamm als Christus Victor und Herrscher über die Geschichte; 2.) Der neue Himmel und die neue Erde (vgl. Jes 54, 11–17; 65, 17f; 66, 22); 3.) Das messianische Zwischenreich als Heilszeit auf Erden, die durch die erste Auferstehung und die Fesselung des Satans qualifiziert wird und sich vor der endgültigen Aufrichtung des Gottesreiches ereignet; die Stelle lautet:

Dann sah ich einen Engel vom Himmel herabsteigen; auf seiner Hand trug er den Schlüssel zum Abgrund und eine schwere Kette.2 Er überwältigte den Drachen, die alte Schlange – das ist der Teufel oder der Satan –, und er fesselte ihn für tausend Jahre (chilia ete).3 Er warf ihn in den Abgrund, verschloss diesen und drückte ein Siegel darauf, damit der Drache die Völker nicht mehr verführen konnte, bis die tausend Jahre vollendet sind. Danach muss er für kurze Zeit freigelassen werden.4 Dann sah ich Throne; und denen, die darauf Platz nahmen, wurde das Gericht übertragen. Ich sah die Seelen aller, die enthauptet worden waren, weil sie an dem Zeugnis Jesu und am Wort Gottes festgehalten hatten. Sie hatten das Tier und sein Standbild nicht angebetet und sie hatten das Kennzeichen nicht auf ihrer Stirn und auf ihrer Hand anbringen lassen. Sie gelangten zum Leben und zur Herrschaft mit Christus für tausend Jahre.5 Die übrigen Toten kamen nicht zum Leben, bis die tausend Jahre vollendet waren. Das ist die erste Auferstehung.6 Selig und heilig, wer an der ersten Auferstehung teilhat. Über solche hat der zweite Tod keine Gewalt. Sie werden Priester Gottes und Christi sein und tausend Jahre mit ihm herrschen. (Offb 20, 1–6)

Das chiliastische Szenario der Offenbarung weist folgende Momente auf. Zunächst erfolgt die Überwältigung und Fesselung des satanischen Drachens durch einen Engel des Himmels; dann wird das tausendjährige Zwischenreich Christi mit den Märtyrern und Bekennern aufgerichtet, die sich dem römischen Kaiserkult verweigert haben und daher der ersten Auferstehung gewürdigt werden; nach Ablauf der tausend Jahre wird der satanische Drache noch einmal kurz freigelassen, der die Unheilsmächte zum Krieg versammelt, aber durch ein Feuer vom Himmel verschlungen wird; darauf folgt schließlich das universale Gericht mit der allgemeinen Totenauferstehung. Das Gericht hat einen doppelten Ausgang: die Gottlosen werden zu ewiger Qual verdammt, die Gerechten zum ewigen Leben errettet.

Die Vorstellung eines tausendjährigen Friedensreiches auf Erden vor dem Ende der Welt erwächst, so hat es die exegetische Forschung freigelegt4, aus dem Zusammengehen zweier unterschiedlicher Erwartungen der jüdischen Eschatologie: zum einen der Erwartung eines innergeschichtlichen Friedensreiches, das Fremdherrschaft und Exil beendet und an die davidisch-salomonische Ära anschließt; zum anderen der apokalyptischen Vorstellung vom baldigen Ende dieses Äons mit allgemeiner Totenerweckung und Gericht als Übergang zum neuen Äon (vgl. 4 Esra 7, 26–33; syr Bar 29f; äthHen 91, 12–17).

2. Thema mit Variationen: Der Chiliasmus in der Frühzeit der Patristik

Nach der Zerstörung Jerusalems durch Titus im Jahre 70 n. Chr. erhielt die Hoffnung auf ein messianisches Friedensreich in judenchristlichen Kreisen Auftrieb. In der kleinasiatischen Theologie wird sie literarisch greifbar bei Kerinth, der das messianische Zwischenreich farbenfroh als «freudiges Hochzeitsmahl» ausmalt. Bei Papias von Hierapolis, von dessen Werk nur Fragmente überliefert sind, steht hingegen die Vorstellung einer paradiesischen Fruchtbarkeit im Vordergrund, auf die Irenäus von Lyon zurückgreifen wird.5

Justin der Märtyrer, der selbst aus Palästina stammt, entwickelt in seinem Dialog mit dem Juden Tryphon, der während des Bar-Kochbar-Aufstands (132–135 n. Chr.) aus dem heiligen Land geflohen ist, eine eigene Sicht. Justin sieht in der Zerstörung Jerusalems und der Zerstreuung der Juden unter die Völker die historische Vorsetzung dafür, dass die Christen das neue Jerusalem als Erbe übernehmen können. In seinem Dialog wirbt er dafür, dass die Juden, die nach dem Edikt Hadrians die Stadt nicht mehr aufsuchen durften, sich zu Christus bekehren und mit der Taufe die geistige Beschneidung empfangen, damit auch sie Anteil am Erbe des neuen Jerusalem erhalten. Justin, der seine Eschatologie an die Topographie Jerusalems rückbindet, nimmt an, dass mit der Wiederkunft Christi die Christen das Heilige Land der römischen Okkupation entwinden und einnehmen werden.

Unter Rückgriff auf die Propheten (vgl. Jes 65, 17–25) geht er von einem tausendjährigen Reich «in dem wieder aufgebauten, geschmückten und vergrößerten Jerusalem»6 aus, in dem die Christen zusammen mit den Gerechten des Alten Bundes leben, Ackerbau treiben und sich durch Zeugung weiter vermehren werden. Die Hoffnung auf die physische Restitution Jerusalems teilt Justin mit Tryphon, seinem jüdischen Gesprächspartner; die den Vätern gegebene Landverheißung muss eingelöst werden. Nur macht Justin den Juden den Anspruch auf die Heilige Stadt streitig, da dieser nun auf die Christen als das «wahre Israel»7 übergegangen sei. «Die Juden sind aus ihrem Land vertrieben – die Christen erheben Anspruch darauf!»8 Die Kontinuität der Heilsgeschichte wird durch den Chiliasmus abgesichert, insofern Gott hier seine einst gegebenen Verheißungen erfüllt.

Damit ist bereits ein Kontrapunkt gegen Markion gesetzt, der zwischen dem bösen Schöpfergott und dem guten Erlösergott unterscheidet und die Schriften des später so genannten Alten Testaments ebenso wie die Apokalypse des Johannes aus seinem Kanon der heiligen Schriften ausscheidet. Markion sieht im Chiliasmus eine überholte jüdische Vorstellung, die nach Zerstörung und Vertreibung der Juden aus Jerusalem auf einen kriegerischen Messias setzt, der die Stadt zurückerobert und ihren Wiederaufbau ermöglicht. Der Chiliasmus ist für ihn ein Rückfall in eine vorchristliche Hoffnungsgestalt, die so tut, als ob Christus nicht schon gekommen wäre.

Tertullian9 widerspricht ihm, kommt Markions Kritik aber durch eine Abmilderung des Realismus entgegen und verzichtet auf eine grob sinnliche Ausmalung der chiliastischen Hoffnung. Auch Laktanz10 und Irenäus von Lyon halten an der Erwartung eines tausendjährigen Friedensreiches fest. Irenäus, der sich in seinem Werk Adversus haereses kritisch mit den gnostischen Strömungen, aber auch mit Markion auseinandersetzt, verteidigt nicht nur die Einheit von Schöpfer- und Erlösergott, sondern auch die Kontinuität der Heilsgeschichte. Bemerkenswert ist, dass er im Rahmen seiner heilspädagogischen Theologie die Idee einer Rekapitulation entwickelt, in die er den Chiliasmus als eine Zwischenphase der Eingewöhnung ins Heil integriert. Im fünften Buch von Adversus haereses, das sich eschatologischen Fragen widmet, findet sich die folgende Passage:

Durch dieses Reich gewöhnen sich alle, die dessen würdig sind, ganz allmählich daran, Gott zu fassen. Man muss aber von ihnen sagen, dass zuerst die Gerechten in dieser Welt, die erneuert wird, bei der Erscheinung des Herrn (ad apparitionem Domini) auferstehen und das verheißene Erbe bekommen, das Gott den Vätern verheißen hat, und darin herrschen. Danach kommt das Gericht über alle (omnium iudicium). Denn es ist gerecht, wenn sie [sc. die Gerechten] die Früchte ihres Duldens in derselben Welt erhalten, in der sie sich auch geplagt haben und leiden mussten, auf alle erdenkliche Art in der Geduld erprobt (probati per sufferentiam), und wenn sie in derselben Welt lebendig gemacht werden, in der sie wegen ihrer Liebe zu Gott auch getötet wurden, und wenn sie in derselben Welt herrschen, in der sie auch Versklavung ausgehalten haben. Denn Gott ist an allem reich, und alles ist sein Eigentum. Folglich muss eben diese Welt in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzt werden und ungehindert den Gerechten dienen.11

In dieser Passage finden sich entscheidende Elemente des chiliastischen Szenarios. Mit der Parusie Christi werden zunächst die Gerechten leiblich auferstehen. Die Betonung der resurrectio carnalis hat eine antignostische Stoßrichtung. Die Gerechten werden das verheißene Erbe erhalten. Die Treue zu den alttestamentlichen Verheißungen, die der Erneuerung dieser Erde gelten, verbietet eine Spiritualisierung der Eschatologie. Die Rede von den «Früchten des Duldens» weist überdies darauf hin, dass Irenäus Märtyrer im Blick hat, die wegen ihres Glaubens getötet wurden. Das entspricht der Situation der Christen in der Zeit vor der konstantinischen Wende, die immer wieder religionspolitischem Druck ausgesetzt waren. Das Argument zielt auf eine Kontinuität der Topographie: Die Märtyrer sollen in genau der Welt ihren Lohn erhalten, in der sie auch gelitten haben. Die Früchte genießen und erneut vom Weinstock dieser Erde trinken, das können sie aber nur, wenn sie wahrhaft auferstanden sind. Ein überhimmlischer Ort, an dem kein Wein wachsen kann, ist damit ebenso abgewiesen wie die gnostische Vorstellung einer rein pneumatischen Auferstehung. Nach der Auferstehung der Gerechten und ihrer tausendjährigen Herrschaft mit Christus erfolgt das allgemeine Gericht mit dualem Ausgang.

Irenäus verweist als Zeugen für den Chiliasmus neben der mündlichen Überlieferung von Presbytern auf die Autorität von Papias, Bischof von Hierapolis, der als «Hörer des Johannes» und «Hausgenosse des Polykarp» ausgewiesen wird. Papias hat die chiliastische Erwartung mit dem Topos einer sagenhaften Fruchtbarkeit verknüpft. Entsprechend beruft sich Irenäus auf das Zeugnis der Propheten, die auf das Friedensreich vorausdeuten. Jesajas Vision, dass Wolf und Lamm zusammen weiden, dass der Säugling seine Hand in die Höhle von Nattern strecken wird, ohne dass diese ihm etwas antun, werden aufgeboten (vgl. Jes 11, 6–9; 65, 25). Beide Zitate weisen mit dem Berg Zion einen Jerusalem-Bezug auf. Neben Frieden wird es nach Irenäus Wohlstand in Fülle geben, an Weizen und Wein, aber auch an Kräutern wird kein Mangel sein. Das wird plastisch vor Augen geführt. Im Hintergrund steht das antimarkionitische Argument von der Einheit der Heilsgeschichte. Die im Alten Bund gegebenen Verheißungen werden im Neuen Bund eingelöst. Nach der Zerstörung Jerusalems und der Vertreibung der Juden aus dem Heiligen Land wird es zu einer wirklichen Restitution kommen (vgl. Ez 28, 25f; Jes 65, 18–22). Ausdrücklich weist Irenäus eine allegorische Interpretation der prophetischen Verheißungen zurück.12 Damit gibt er der Eschatologie eine antispiritualistische Note, die Hans Urs von Balthasar als «wohltuend»13 bezeichnet hat. Nach dem Ende des chiliastischen Interregnums werden die neue Erde und der neue Himmel kommen, die das ewige Hochzeitsmahl des Herrn mit den Gerechten ermöglichen werden.

In der alexandrinischen Theologie, in der die geistliche Schriftauslegung stärker gepflegt wurde, wurde diese Lesart der Offenbarung und der Propheten als zu buchstäblich, zu «jüdisch» abgewiesen. Origenes schreibt in De principiis: «Die Schüler des bloßen Buchstabens glauben, die künftigen Verheißungen seien in Lust und Ausschweifung des Körpers zu erwarten … sie malen sich aus, dass die irdische Stadt Jerusalem wieder aufgebaut würde … Um es kurz zu sagen: Sie wollen alles, was auf Grund der Verheißungen zu erwarten ist, in allen Dingen dem ähnlich haben, was in diesem eben üblich ist, so dass noch einmal das sein soll, was ist. Die so denken, glauben zwar an Christus, aber sie verstehen die heilige Schrift sozusagen in jüdischem Sinne und haben aus ihr nichts entnommen, was den göttlichen Verheißungen angemessen wäre.»14 Auch im Westen verlor der Chiliasmus nach der konstantinischen Wende sukzessive an Bedeutung. Man glaubte, dass mit der reichsrechtlichen Anerkennung des Christentums die Deutung Roms als «Hure Babylon» und des Kaisers als Personifikation des «Antichristen» obsolet geworden war. Ambrosius spart den Chiliasmus aus, Hieronymus verwirft ihn, Augustinus domestiziert ihn.

3. Die ekklesiologische Domestizierung des Chiliasmus durch Augustinus

Augustinus liefert in seinem Werk De Civitate Dei eine theologische Widerlegung des Chiliasmus. Er bezieht die Vorstellung des innergeschichtlichen Friedensreiches auf die Zeit der Kirche. Mit dieser ekklesiologischen Deutung nimmt er das utopische Potential des Chiliasmus, der in der Geschichte einen heilsgeschichtlichen Fortschritt über Christus hinaus erwartet. Auch wenn die Kirche unter den Bedingungen der Geschichte ein corpus permixtum ist, in dem Gerechte und Sünder bis zum Jüngsten Gericht zusammenleben, so ist die Macht des Satans doch grundsätzlich schon überwunden. Christus hat gesiegt und mit den Gläubigen in der Kirche bereits seine Herrschaft aufgerichtet.15

Historischer Anlass des Werkes ist der Einfall der Westgoten unter Alarich in Rom im Jahre 410. Die ewige Stadt wurde gestürmt und geplündert. Eine solche Niederlage war seit 387 v. Chr. nicht mehr vorgekommen. Die paganen Denker machten die Abschaffung des heidnischen Kultes und die Einführung der neuen Religion der Christen für die Katastrophe verantwortlich. Die alten Götter haben ihren Zorn entladen! Aber auch bei den Christen machte sich Verzagtheit breit, weil selbst die Gräber der Apostel Paulus und Petrus keinen Schutz vor den Goten geboten hatten. Auf die paganen Vorwürfe antwortet Augustinus im ersten Teil von De civitate (Bücher I–X), der den Charakter einer Widerlegung – refutatio – hat. Er macht geltend, dass der moralische und politische Niedergang Roms bereits weit vor der Christianisierung eingesetzt habe; außerdem habe es auch zu Zeiten des paganen Staatskultes militärische Niederlagen gegeben. Die verunsicherten Christen ermahnt der Bischof von Hippo, sie sollten ihren Blick auf die ewige Heimat richten und nicht an der vergänglichen Stadt Rom hängen.

Im Hintergrund der Kontroversen stand allerdings die Frage nach dem Wirken Gottes in der Geschichte – und das Vertrauen in die Vorsehung Gottes war durch den Untergang Roms ins Wanken geraten. Daher beginnt Augustinus, die Grundlagen einer Geschichtstheologie auszuarbeiten, die er im zweiten Teil von De civitate Dei vorlegt (Bücher XI–XXII). Dieser Teil hat den Charakter einer positiven Darlegung – demonstratio – und erörtert Ausgang, Verlauf und Ende der Geschichte. Innertheologisch wendet sich Augustinus gegen die Reichstheologie, welche von Eusebius, Prudentius und Orosius verbreitet wurde. Diese sehen mit der Anerkennung des Christentums durch Rom das Friedensreich Christi angebrochen. Theologie und Politik, genauer: Monotheismus und Monarchie gehen hier eine enge Verbindung ein: ein Gott – ein Kaiser – ein Reich. Gegen diese politische Theologie eines christlichen Kaiserreichs entwickelt Augustinus seine Lehre von den beiden civitates, welche den Lauf der Geschichte bestimmen: civitas Dei und civitas terrena.

Ursprung und Ziel sind geschichtstranszendent und liegen bei Gott. Die Geschichte dazwischen ist ein Interim, für die Menschen die Pilgerschaft in der Fremde (peregrinatio). Darauf folgen Gericht und Vollendung in der civitas caelestis. Während Augustinus in den Confessiones den Weg des Einzelnen beschreibt, der sich durch die Selbstverkrümmung von Gott entfremdet, dann aber von Gott aufgesucht und gefunden wird, so dass er, wenn er sich bekehrt, neu zu sich selbst finden kann, wird dieselbe Sinndynamik in De civitate auf universalgeschichtliche Weise entfaltet. Die Geschichte wird zum Schauplatz der Entscheidung für oder gegen Gott, für den Glauben an sein menschgewordenes Wort, Jesus Christus, und seine Kirche – oder dagegen. Die Pilgerschaft der Menschen steht unter dieser Alternative.

Hier setzt Augustins Gedanke von den beiden Bürgerschaften an, den man weder politisch engführen noch idealistisch missverstehen darf. Eine theokratische Deutung, die mit Augustins Gottesstaat «das geistige Fundament für das Heilige Römische Reich des Mittelalters»16 gelegt sieht ( Jacob Taubes), ist ebenso verfehlt wie eine idealistische Interpretation, die in der civitas Dei eine rein unsichtbare, verborgene Größe zu erkennen glaubt (Adolf von Harnack, Heinrich Scholz u.a.). Civitas Dei ist vielmehr, wie Joseph Ratzinger deutlich gemacht hat, das Volk aus den Völkern, das Gott sich in der Welt sammelt, die Gemeinschaft der Kirche, die aufgrund ihrer Sakramente auch eine sichtbarinstitutionelle Struktur hat.17 In der Unterscheidung der beiden Bürgerschaften geht es um die Frage: Was sind die letzten Bestimmungen, die Menschen bei ihrem Handeln in der Geschichte leiten? Auf der einen Seite gibt es die Haltung der Abwendung von Gott und der Hinwendung zu sich selbst – das ist die Maxime, auf der das Verhalten der Engel und Menschen basiert, die in der civitas terrena zusammengeschlossen sind. Auf der anderen Seite gibt es die Haltung der Zuwendung zu Gott und der Abwendung von selbstzentriertem Denken – das ist die Maxime, auf der das Verhalten der Engel und Menschen basiert, die in der civitas Dei zusammengeschlossen sind. Das Drama der Geschichte besteht nun darin, dass die beiden civitates nebeneinander herlaufen und der Mensch aufgerufen ist, sich von der civitas terrena ab- und der civitas Dei zuzuwenden:

Demnach wurden die zwei Bürgerschaften (civitates) durch zweierlei Liebe begründet, die irdische durch Selbstliebe (amor sui), die sich bis zur Gottesverachtung steigert, die himmlische durch Gottesliebe (amor Dei), die sich bis zur Selbstverachtung erhebt. Jene rühmt sich ihrer selbst, diese rühmt sich des Herrn. Denn jene sucht Ruhm von Menschen, diese findet ihren höchsten Ruhm in Gott, dem Zeugen des Gewissens. (XIV, 28)18

Das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Bürgerschaften, das allegorisch durch die Namen ‹Jerusalem› und ‹Babylon› zum Ausdruck gebracht wird, kann an anderer Stelle auch durch die paulinische Unterscheidung zwischen Fleisch und Geist näher bestimmt werden: «Die eine besteht aus den Menschen, die nach dem Fleisch, die andere aus denen, die nach dem Geist leben wollen, jede in dem ihrer Art entsprechenden Frieden» (XIV, 1). Die civitas Dei, die mit Abel einsetzt und bereits die Gerechten des Alten Bundes umschließt, findet ihre sichtbare Rechtsgestalt in der Kirche, ist aber auch nicht ganz deckungsgleich mit ihr. Augustinus weiß aus dem Konflikt mit den Donatisten, wie problematisch es ist, eine von Sündern freie Kirche zu fordern. Die Tugend der Heiligkeit wird rigoristisch und befördert die Unnachgiebigkeit gegenüber schwachen Gliedern. Kirche ist für Augustinus eine komplexe Wirklichkeit, ein corpus permixtum, in dem Sünder und Gerechte bis zum Jüngsten Tag gemeinsam unterwegs sind, wie es das Gleichnis vom Weizen und Unkraut verdeutlicht (Mt 13, 34–40). Dennoch ist die pilgernde Kirche der geschichtliche Träger der civitas Dei. Ja, Augustinus ist sich gewiss, dass es nur über die ecclesia catholica Zugang zur ecclesisa sancta geben kann und niemand außerhalb der Kirche das Heil erlangt, weil die Gottesliebe (caritas) nur in der Kirche als Einheit (unitas) sichtbar ist.19 Die Kirche versucht dem Prinzip der Gottesliebe Raum zu geben, allerdings gelingt es der Gemeinschaft der Gläubigen immer nur gebrochen, diese Gottesliebe zu verwirklichen. Man kann über das Spannungsverhältnis zwischen sichtbarer katholischer Kirche und civitas Dei sagen: «Die Kirche ist die civitas Dei, weil und insofern sie in ihren wahrhaft Glaubenden, Hoffenden und Liebenden und auch – von ihnen getragen – in ihrer hierarchischen Struktur bereits jetzt die Herrschaft Gottes und seines Christus in sich verwirklicht. Zugleich ist sie noch auf dem Weg, diese Herrschaft einmal ganz und gar, ohne Vermischung mit Ungehorsam und Unglauben in ihnen zur Geltung kommen zu lassen.»20

Die Frage ist, wann die Ernte stattfinden wird, in der das Unkraut vom Weizen getrennt wird. In der Geschichte, wie die Chiliasten behaupten, oder im Zusammenhang mit der Vollendung der Geschichte im Jüngsten Gericht? Augustinus optiert klar für letzteres, wie dem XX. Buch über das Jüngste Gericht zu entnehmen ist, in dem er einen Kommentar zur Rede vom tausendjährigen Friedensreich in der Apokalypse des Johannes vorlegt (vgl. Offb 20, 1–6). Augustinus setzt sich zunächst kritisch mit der These auseinander, dass nach sechstausend Jahren Geschichte eine tausendjährige Sabbatruhe für die Heiligen einsetze, welche der ersten Auferstehung gewürdigt werden. Die Vorstellung der Chiliasten, dass diese Sabbatruhe mit leiblichen Tafelfreuden und Schwelgereien verbunden sei, hält Augustinus für eine «lächerliche Fabel» (ridiculosa fabula); er lehnt sie als Ausdruck fleischlicher Gesinnung ab und vertritt selbst eine geistliche Deutung. Er versteht die Rede von der ersten Auferstehung so, dass der Übergang vom Tod zum Leben bereits jetzt auf geistliche Weise erfolgt (vgl. Röm 7, 22, Eph 3, 16). Wer diesen Übergang im Glauben und durch die Taufe vollzieht, wird vor dem zweiten Tod, der Verdammnis im Jüngsten Gericht, bewahrt werden, wenn er ein dem Evangelium entsprechendes Leben führt. Die zweite Auferstehung aber meint die Auferstehung der Leiber im Zusammenhang mit dem Jüngsten Gericht am Ende der Weltzeit. Das chronologische Szenario der Apokalypse deutet Augustinus so, dass die Fesselung des Satans bereits stattgefunden und die Kirche bereits mit Christus herrscht. Im dramatischen Finale wird der Satan noch einmal kurz freigelassen, um die verführten Völker zum Krieg gegen die Kirche zu versammeln. Die Erwählten aber, so Augustinus, werden trotz der Drangsal nicht vom Glauben abfallen, sondern sich im Leiden bewähren und durch den Ansturm von außen in ihrer Heiligkeit innen gestärkt werden (XX,8). Das Gericht, das dann die Scheidung zwischen Weizen und Unkraut vollziehen wird, bringt die eschatologische Transformation: Die Kirche als corpus permixtum, das Gerechte und Sünder gleichermaßen versammelt, wird in die wahre civitas Dei der Heiligen überführt (XX,9). Der Teufel wird «in den Pfuhl des Feuers» geworfen, so dass die civitas terrena, die auch civitas diaboli genannt wird, definitiv keine Wirkmacht mehr hat. Erst jetzt wird das Reich Christi ganz Wirklichkeit werden, in dem es keinen Tod mehr gibt (XX,14).

Die Bedeutung von De civitate Dei liegt darin, dass hier die Verheißung des Reiches Gottes mit einem konkreten geschichtlichen Träger, der Kirche, verbunden wird. Das «tausendjährige» Reich Christi ist in der Kirche bereits angebrochen, es muss nicht noch erwartet oder durch eine entsprechende Frömmigkeitspraxis herbeigeführt werden. Das ist allerdings kein Anlass zu ekklesiologischem Triumphalismus, denn die Kirche ist nicht lückenlos identisch mit dem Reich Christi. Sie ist, wie Ernst Troeltsch sagt, «ein corpus permixtum von Scheinchristen, Zeitgläubigen und Erwählten, zwischen denen bei der äußerlichen Unerkennbarkeit der Erwählten in der Praxis so wenig unterschieden werden kann wie zwischen bloßen Pistikern und eigentlichen Gnostikern bei Origenes. Die Civitas Dei insbesondere, soweit sie in der Kirche sich manifestiert, fällt nur mit dem Kernbestandteil, den Erwählten zusammen.»21 Anders als die Donatisten und alle rigorosen Reformbewegungen in der Geschichte der Kirche, die das Unkraut bereits eigenmächtig ausreißen wollen, plädiert Augustinus für ein nüchternes Verständnis von Kirche mit entsprechender Toleranz für Sünder und Schwache.

4. Transformationen des Chiliasmus und die Ekklesiologie des II. Vatikanischen Konzils

Die ekklesiologische Domestizierung des Chiliasmus durch Augustinus hat die Hoffnung auf ein Friedensreich auf Erden deutlich ab

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