archivierte Ausgabe 6/2019 |
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Herausgeber und Redaktion |
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JOACHIM HAKE Direktor der Katholische Akademie in Berlin e.V. |
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URSULA SCHUMACHER
Professorin für Dogmatik an der Universität Luzern |
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JAN-HEINER TÜCK Professor für dog-
matische Theologie, Universität Wien |
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Herausgeber und Redaktionsbeirat stellen sich vor. |
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Lesermeinung von |
Anton Svoboda,
Dipl.-Theologe, Musiker
Lesen Sie hier |
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Leseprobe 3 |
DOI: 10.14623/com.2019.6.654–658 |
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Jürgen Habermas |
MEHR ALS ALLES, WAS DER FALL IST |
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Soeben ist von Jürgen Habermas das lange erwartete zweibändige Werk Auch eine Geschichte der Philosophie zur Geschichte der Herausbildung des modernen säkularen Denkens erschienen: Eine eindrucksvolle und quellenreiche Studie entlang der permanenten Auseinandersetzung zwischen Glauben und Wissen.
Der Journalist und Theologe Henning Klingen hat am 22. Oktober 2019 in Starnberg mit Jürgen Habermas über sein neues Opus gesprochen.
Henning Klingen: Herr Habermas, Sie legen in diesen Tagen Ihr neues Werk vor. Zwei Bände im Umfang von rund 1.700 Seiten …
Jürgen Habermas: …und da möchte man eigentlich als Autor eher vom Leser erfahren, was dieser mit einem solchen, mehr als zehnjährigen Streifzug durch die Geschichte der abendländischen Philosophie anfangen kann. Insofern war meine Zustimmung zu diesem Interview wohl etwas unvorsichtig.
Dennoch wird es Sie nicht verwundern, dass man als Leser danach fragt, worin Ihr Antrieb bestand, sich im neunten Lebensjahrzehnt noch einmal so intensiv mit den Fragen der Herausbildung des nachmetaphysischen Denkens zu befassen?
Habermas: Die Wissenschaft vermehrt unser Wissen von der Welt mit einer unerhörten Beschleunigung. In der kurzen Spanne des 20. Jahrhunderts haben wir die Durchbrüche in der Mikrophysik, in der Biogenetik und in den Neurowissenschaften erfahren – und fast ebenso schnell die umwälzenden technologischen Folgen dieser Erkenntnisse. Wir lernen nicht nur immer mehr über die uns umgebende Natur, sondern nun auch über die Natur, die wir selber sind. Die Biotechnologie kann inzwischen mit den Bausteinen des Lebens nach beliebigen, und nicht mehr nur nach therapeutischen Zwecken verfahren; und die Operationen des Geistes, die uns bisher nur reflexiv, gewissermaßen durch den Geist selber zugänglich waren, werden als hardware vergegenständlicht. Im Lichte dieser umwälzenden Erfolge fühlen sich die Geistes- und Sozialwissenschaften gewissermaßen «abgehängt». Erst recht muss sich die Philosophie fragen, ob sie sich von den objektivierenden Naturwissenschaften ins Schlepptau nehmen lassen oder nicht doch auf ihrem Eigensinn beharren soll. In der philosophy of mind hat sich beispielsweise eine fruchtbare Zusammenarbeit mit den Kognitionswissenschaften angebahnt. Aber darüber darf die Philosophie nicht vergessen, dass ihre eigentliche Aufgabe nicht darin besteht, unmittelbar zur Verbesserung unseres Wissens von der Welt beizutragen – sie soll darauf reflektieren, was solche Wissensfortschritte für uns bedeuten.
Was heißt das konkret?
Habermas: Mein Narrativ erinnert daran, dass sie einen rationalen Beitrag zur Klärung unseres Welt- und Selbstverständnisses leisten kann. Philosophie ist gewiss eine wissenschaftliche Denkungsart, die aber darüber aufzuklären versucht, wie wir uns heute als Menschen, als Personen und Individuen, auch als Zeitgenossen verstehen können. Dabei geht es, wohlgemerkt, um eine theoretische Orientierung, nicht um das Verhältnis von Philosophie und Öffentlichkeit.
Mit anderen Worten, es hat Sie vor allem die innerphilosophische Debattenlage und Frontstellung herausgefordert, in die Sie sich mit Ihrer Genealogie nachmetaphysischen Denkens einmischen wollen.
Habermas: Es geht eher um eine Hintergrundkontroverse darüber, wie weit die menschliche Vernunft reicht. Erstreckt sich unser fallibles Wissen nur auf das, was der Fall ist? Wir können uns auch über moralische und rechtliche Konflikte, über Kunstwerke und ästhetische Erfahrungen, sogar über die in Lebensformen oder individuellen Lebensentwürfen verkörperten Wertorientierungen mit Gründen auseinandersetzen. Das Spektrum von Gründen, die ins Gewicht fallen, reicht offensichtlich über den Bereich empirischen und theoretischen Wissens hinaus. Wenn aber solche Argumente ebenso «zählen», ist darin die Überzeugungskraft einer praktischen Vernunft am Werk, die nicht in einer für praktische Zwecke bloß in Dienst genommenen theoretischen Vernunft aufgeht. Dann dürfen wir aber auch solche Lernprozesse erwarten, die sich nicht in einer Steigerung von Produktivkräften niederschlagen, die sich vielmehr in Institutionen der Freiheit und der Gerechtigkeit verkörpern. Historische Umstände fordern uns zu solchen, oft schmerzlichen normativen Lernprozessen heraus. Dabei lernen wir, wenn alles gut geht, unterprivilegierte Andere in unsere Lebensformen einzubeziehen oder diskriminierte Fremde als gleichberechtigte Andere in einer gemeinsam erweiterten Lebensform anzuerkennen.
Wenn ich Sie richtig verstehe, geht es Ihnen darum dieses «Mehr als alles, was der Fall ist» aufzuzeigen, bzw. die Philosophie dafür offen zu halten, ohne aber in das Fahrwasser traditioneller Metaphysik zu geraten …
Habermas: Wenn wir aus historischer Sicht von ‹Metaphysik› sprechen, meinen wir starke Weltbilder, in denen der Begriff des Seienden mit Begriffen des Exemplarischen, des Schönen, Guten und Gerechten noch verwoben ist. Auf diese Weise wird die Verfassung der Welt oder der Weltgeschichte auf die Stellung, die wir Menschen darin einnehmen, zugeschnitten. Die Welt wird so entworfen, als wäre sie von Haus aus bewohnbar. Nicht nur die religiösen Lehren, auch die metaphysischen verkünden ein Sinn gebendes Telos und enthalten ein Versprechen «rettender» Gerechtigkeit. Demgegenüber unterscheidet das nachmetaphysische Denken das Sein sorgfältig vom Sollen, das Schöne vom Guten und dieses wiederum vom Gerechten. Die Metaphysik konnte die großen Fragen danach, was wir erkennen können, was wir tun sollen, was wir hoffen dürfen und was überhaupt der Mensch sei, noch aus einem Guss beantworten. Aber seit dem 17. Jahrhundert sind diese metaphysischen Weltbilder aus guten Gründen zerfallen; die modernen Gesellschaften müssen alle normativen Orientierungen gewissermaßen aus ihren eigenen Ressourcen erzeugen. Mein Buch soll dann prüfen, ob wir auch unter diesen Bedingungen nachmetaphysischen Denkens an jenen großen, seinerzeit von Kant formulierten Grundfragen festhalten können.
Sie spielen auf die berühmten Fragen «Was kann ich wissen?», «Was soll ich tun?», «Was darf ich hoffen?» und «Was ist der Mensch?» an. Wie fällt denn diesbezüglich Ihr Plädoyer aus?
Habermas: Im Hinblick auf die zweite Frage «Was sollen wir tun» plädiere ich dafür, der praktischen Vernunft mehr als nur kluge, an je eigenen Präferenzen, Werten oder Gefühlen orientierte Entscheidungen zuzutrauen. Wir können aus der Einsicht in die verletzbaren Strukturen unseres Zusammenlebens gute Gründe für die Kantische Idee der Gerechtigkeit und für allgemein verbindliche normative Orientierungen des Handelns gewinnen.
Ihr Anliegen war es aufzuzeigen, wie sich das nachmetaphysische Denken historisch herausschält und von religiösen Umklammerungsversuchen freimacht. Einen Markstein stellt dabei die Philosophie Kants dar. Mit ihm auf der einen Seite und David Hume auf der anderen Seite sehen Sie die Philosophie an einer Wegscheide. Vor welcher Entscheidung stand die Philosophie?
Habermas: Seit dem römischen Kaiserreich ist der Diskurs über Glauben und Wissen für die okzidentale Konstellation des Geistes überhaupt entscheidend gewesen. Ich verfolge, wie sich die Philosophie währenddessen im Schmelztiegel der «natürlichen Vernunft» aus den religiösen Überlieferungen bestimmte Motive, Erfahrungsgehalte und Sensibilitäten angeeignet hat. Mit dieser hartnäckigen Übersetzungsarbeit hat sie wichtige Grundbegriffe wie «Person» und «Individuum», «freier Wille» und «Autonomie», oder das «Sollen» verpflichtender Normen aus ihren religiösen Kontexten herausgelöst. Während Hume dieses Erbe dann in detaillierten Analysen Begriff für Begriff zerlegt, dekonstruiert und entwertet hat, war es Kants Absicht, diesen ethischen Kern der Religion und das darauf basierende Naturrecht innerhalb der Grenzen reiner Vernunft zu rekonstruieren.
Welche Weichenstellungen konnten Sie beobachten und inwiefern sind diese bis heute von Bedeutung?
Habermas: Kant hat in seinem Autonomiebegriff auf ingeniöse Weise die Idee der Freiheit mit einem universalistischen Begriff von Gerechtigkeit verschränkt. Das handelnde Subjekt kann nicht unabhängig von seiner Zugehörigkeit zu einer gerechten Gesellschaft als autonom gedacht werden. Unabhängig vom Gedanken der gesellschaftlichen Integration freier und gleicher Bürger unter allgemeinen Gesetzen können wir uns nicht als autonom handlungsfähige Wesen verstehen. Mit diesem Gedanken öffnet sich für Hegel, der als erster historisch denkt und Gesellschaft und Kultur als eine «zweite Natur» philosophisch ernst nimmt, die Tür zu jenem Diskurs der Moderne, den dann Marx fortgesetzt hat – und den wir heute immer noch weiterführen. Schon bei Hegel kreiste dieser Diskurs um die Frage, wie sich im Rahmen einer kapitalistisch mobilisierten und beschleunigt komplexer werdenden Gesellschaft die prekäre Balance zwischen der Solidarität der vertrauten Herkunftswelten auf der einen, und den funktionalen Imperativen der wirtschaftlichen Dynamik auf der anderen Seite stabilisieren lässt. Die kapitalistische Dynamik erzeugt zusammen mit einer wachsenden sozialen Ungleichheit eine Entfremdung der Individuen von ihren eingewöhnten Lebensverhältnissen; aus Hegels Sicht können freilich solche Krisen mit der versöhnenden Kraft der staatlichen Organisationsgewalt in individualisierende Freiheitsgewinne umgemünzt werden. [...]
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