archivierte Ausgabe 6/2022 |
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Herausgeber und Redaktion |
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JOACHIM HAKE Direktor der Katholische Akademie in Berlin e.V. |
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URSULA SCHUMACHER
Professorin für Dogmatik an der Universität Luzern |
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JAN-HEINER TÜCK Professor für dog-
matische Theologie, Universität Wien |
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Herausgeber und Redaktionsbeirat stellen sich vor. |
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Lesermeinung von |
Anton Svoboda,
Dipl.-Theologe, Musiker
Lesen Sie hier |
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Leseprobe 1 |
DOI: 10.14623/com.2022.6.597–608 |
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Justina C. Metzdorf |
GOTT NIEMALS LOSLASSEN |
Impulse aus der patristischen Exegese über Jakobs Kampf am Jabbok (Gen 32, 23-33) |
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«Vom Gebetskampf renkt man sich nicht die Hüfte aus.»1 Als Hermann Gunkel im Jahr 1901 seinen berühmten Kommentar zum Buch Genesis veröffentlichte, verlieh er mit dieser süffisanten Bemerkung, mit der er sich gegen die allegorischen Auslegungen der Erzählung vom Kampf Jakobs am Jabbok richtet, seiner festen Überzeugung Ausdruck, dass «alle die ‹geistigen› Wahrheiten (…) im Text keinen Anhalt»2 haben. Vielmehr bezeugten die geistlichen Auslegungen dieser Geschichte lediglich die bemerkenswerte «Kraft der Religion, sich Fremdartiges anzueignen, Uraltes in neuem Sinne umzubilden und Schlacken in Gold zu verwandeln»3.
Die Kirchenväter, um deren Auslegungen der Erzählung vom nächtlichen Kampf Jakobs es in diesem Beitrag gehen soll, verstehen ihre geistliche Deutung keineswegs als Aneignung, Umbildung oder Verwandlung des Textes. In ihrer Hermeneutik klafft zwischen der historisch-philologischen Texterklärung und dem geistlichen Verstehen kein jäher Abgrund. Allerdings unterscheiden sich die Fragen, mit denen die Kirchenväter an den Text herantreten, zum Teil ganz erheblich von den Fragestellungen, unter denen ein moderner Kommentar die Perikope untersucht. Ich möchte in diesem Beitrag einige Aspekte der patristischen Auslegungen zur Erzählung von Jakobs Kampf am Jabbok vorstellen, und zwar vor dem Hintergrund ihrer grundlegenden hermeneutischen Voraussetzungen, ohne deren Kenntnis die Väterexegese für heutige Leser(innen) schwer nachzuvollziehen ist.
Grundlage der patristischen Exegese ist die Theorie vom «zweifachen Schriftsinn». In den Quellen kommt der Begriff «Sinn» (griechisch nous, lateinisch sensus) nur im Singular vor, das heißt, es gibt für die Kirchenväter nur einen Sinn der Schrift, der jedoch aus zwei unterschiedlichen Dimensionen besteht, der historischen und der geistigen, wobei sich die geistige Ebene nochmals in verschiedene «Fächer» unterteilen lässt.4 Die übliche Rede vom Literalsinn und vom Spiritualsinn sollte sich dessen bewusst sein, dass es sich dabei lediglich um Bedeutungsebenen oder Dimensionen des einen Sinns handelt, nicht aber um je eigenständige Sinne der Schrift.
Zur Unterscheidung dieser beiden Ebenen greifen die Kirchenväter auf die paulinische Terminologie von «Buchstabe und Geist» (2 Kor 3, 4-18) zurück.5 Die Untersuchung der «buchstäblichen» Dimension geschieht im Rückgriff auf die etablierten wissenschaftlichen Methoden der antiken Philologie. Für die Erschließung der geistigen Bedeutungsebene verwenden die Kirchenväter dagegen eine andere Terminologie: «Öffnen», «Emporführen», «Aufsteigen» etwa sind Begriffe, die darauf hinweisen, dass der methodische Zugang zur geistigen Dimension des Textes ein anderer ist als der zur buchstäblichen.6 Die buchstäbliche, historische Bedeutung wird häufig als «Oberfläche» bezeichnet, die geistige dagegen als «Tiefe».7 Zwischen der Oberfläche und der Tiefe, dem Buchstaben und dem Geist, besteht eine bestimmte Beziehung; sie bilden eine dynamische Einheit. Der geistige Sinn wird dabei von den Vätern keineswegs als ein dem Buchstaben aufgesetzter oder fremder verstanden. Vielmehr sehen sie im Buchstaben das Medium, in dem die geistige Dimension durch das Wirken der inspirierten Verfasser der biblischen Schriften vermittelt wird. Deshalb sind die philologischen und historischen Methoden nach Ansicht der Kirchenväter das gebotene Mittel, um dem Text als historisch und kulturell bedingtem Zeugnis gerecht zu werden, aber sie reichen allein nicht aus, um den Sinn des Textes hinreichend zu erklären. Vielmehr schaffen sie im Horizont des inneren Zusammenhangs von Buchstabe und Geist die Grundlage der Sinnerschließung. Origenes hält als Aufgabe und als Grenze der philologisch-historischen Textanalyse fest: «Es wird nicht am falschen Platz sein, (…) an die Vertreter der Meinung, in diesen Berichten werde nichts über die geschichtliche Dimension hinaus kundgetan, eindringliche Worte zu richten, sie sollen in diesen Buchstaben als in Schriften des Geistes auch einen dem Geist würdigen Sinn suchen.»8 Der Heilige Geist als der eigentliche Autor der biblischen Schriften verbürgt die aktuelle Bedeutung aller Bibeltexte, insofern als jeder Text über seine historische Aussage und Situationsbedingtheit über sich hinausweist auf den Zusammenhang der gesamten Heilsgeschichte und damit eine Bedeutung auch für das Hier und Heute in sich trägt.
Die Verankerung der Perikope vom Kampf Jakobs am Jabbok in der Heilsgeschichte als ganzer – und diese umfasst nicht nur die biblischen Zeiten, sondern erstreckt sich über die Gegenwart hinaus bis zur Vollendung der Geschichte im Reich Gottes – ist also der Schlüssel zum Verständnis der patristischen Auslegungen. Der Schwerpunkt der Väterauslegungen zu Gen 32, 23-33 liegt darum in dem Bestreben, den Text zu aktualisieren und seine Relevanz für die heute Glaubenden aufzudecken.
Gen 32, 23-33 erzählt, wie Jakob am Vorabend der Begegnung mit seinem Bruder Esau, vor dem er sich fürchtet, seine Familie samt seinem Besitz über den Fluss Jabbok bringt, dann selbst zurückbleibt und in der Nacht mit einem Mann bis zum Morgen kämpft. Dieser Mann kann Jakob nicht besiegen und fügt ihm eine Verletzung an der Hüfte zu. Auf seine Bitte, ihn loszulassen, weil der Tag anbricht, verlangt Jakob im Gegenzug den Segen des Mannes, der Jakob den neuen Namen Israel verleiht. Jakob erkennt, dass dieser Kampf eine Begegnung mit Gott «von Angesicht zu Angesicht» (Gen 32, 31) war. Die Kirchenväter befragen die Erzählung einerseits nach dem Gottesbild, das der Text zeichnet; sie suchen zu erklären, was der Gott, der mit Jakob ringt, von sich und seinen Absichten kundtut. Anderseits deuten sie die Gestalt Jakobs symbolisch, und zwar in doppelter Weise, nämlich einerseits als Bild für die Kirche und anderseits als Bild für den einzelnen Christen. Beide Größen, Kirche und Einzelner, hängen in der Exegese der Väter zuinnerst miteinander zusammen. In vielen patristischen Auslegungen kommt ein Gespür für die Gegensatzpaare innerhalb der Erzählung zum Ausdruck. Dazu gehören Überlegungen zu den Zeitangaben und ihrem Verhältnis zueinander, also die Nacht, in der der Kampf tobt, und die Morgenröte, zu der er beendet wird. Außerdem wird das Aufeinandertreffen von Mensch und Gott in den Blick genommen, dann der Umstand, dass der vermeintlich Unterlegene die Macht hat zu segnen, schließlich die Gegensätze innerhalb der Gestalt Jakobs: seine Angst vor dem Bruder und sein Mut gegenüber dem göttlichen Gegner, seine Unbezwingbarkeit und seine Verletzlichkeit.
Kaum ein Kommentar des 20. Jahrhunderts zum Buch Genesis ringt nicht mit dem verstörenden Gottesbild, das die Szene am Jabbok zeichnet: Gott greift Jakob an, «einem Raub- oder Mordüberfall darin gleichend, dass der Überfallene ahnungslos ist»9. Damit rückt der Vorfall am Jabbok in ein ähnlich unheimliches Licht wie der Angriff auf Mose, von dem das Buch Exodus berichtet: «Unterwegs am Rastplatz trat der Herr dem Mose entgegen und wollte ihn töten» (Ex 4, 24).10 Eine Studie aus dem Jahr 2010 hält als Resümée der Forschungsgeschichte fest: «Alle Deuter können nicht verständlich machen, warum Gott unmotiviert gegen Jakob vorgeht.»11
Anmerkungen 1 Hermann Gunkel, Genesis, Göttingen 1901 (HKAT 1,1) 326. 2 Ebd. 3 Ebd., 330. 4 Der bekannte mittelalterliche Merkvers über den «vierfachen Schriftsinn», Littera gesta docet, moralis quid agas, quid credas allegoria, quo tendas anagogia, entspricht nicht der patristischen Terminologie. 5 Beispiele zur Terminologie: Origenes, Jo. X 26,159; 40,273.277 (SC 157, 480.552.554); Ders., comm. in Mt. XV 24 (GCS 40, 556f); Hieronymus, Matth. (SC 259, 114); Ambrosius, Lc. IX 19 (CCL 14, 338). 6 Vgl. Augustinus, Io. eu. tr. 10,10 (CCL 36, 106f); vgl. ebf. Origenes, Jo. X 31,199 (SC 157, 500- 502); vgl. ders., Jo., X 18,111 (SC 157, 448). 7 Vgl. Augustinus, Io. eu. tr tract. 10,3 (CCL 36,101f). 8 Origenes, Jo. 10,40,273 (SC 157, 552). 9 Claus Westermann, Genesis 12-36, Neukirchen-Vluyn 1981 (BK AT Bd. 1/2.2) 629. 10 Vgl. Hermann Gunkel, Genesis, 326. Zusammenfassungen der Forschungsgeschichte: vgl. Horst Seebass, Vätergeschichte II (23,1-36,43), Neukirchen-Vluyn 1999, 398-402; vgl. ebf. Bill T. Arnold, Genesis, New York 2009 (NCBC) 283f. 11 Alois Krist, Spannung satt Spaltung. Dimensionen eines förderlichen Umgangs mit Aggression in der Kirche, Münster 2010, 208. [...]
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