Don Camillo hatte kein Offenbarungsproblem. Das Kruzifix vom Hauptaltar seiner Kirche teilte ihm unüberhörbar und zuverlässig mit, was er zu tun und zu lassen hatte. Darauf müsste eigentlich jeder Monotheist neidisch sein, denn so präzise Handlungsanweisungen hört er von seinem großen Gegenüber nicht. Die zentrale Offenbarung des biblischen Gottes war gewaltig, ging aber zunächst nicht ins Detail. Sie bestand in der puren Ausrufung seiner Existenz. Das war weiß Gott nicht wenig. Diese Wirklichkeit der Wirklichkeiten, der alles Sein sein Dasein verdanken sollte, steht seitdem wie ein Vorzeichen vor der Klammer, die die Welt bedeutet: Ein einziger Gott als das große Gegenüber! Israel hatte die wichtigste Schwelle unserer Religionsgeschichte überschritten.
Die Frage des Monotheisten, die sich aus dem Neid auf Don Camillo fast zwangsläufig ergibt, muss lautet: Und was heißt das jetzt für mich? Lieber Gott, kannst du nicht etwas konkreter werden? Was willst du, dass ich tun soll? «Dein Wille geschehe» – sehr gern. Aber wie erkenne ich ihn? Die Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse wird mir ja nachparadiesisch vorenthalten. Wie oft bin ich ratlos. Soll ich das Böse hinnehmen oder darf ich nicht auch einmal zurückschlagen wie Don Camillo? Genau das hatte übrigens im Kino die Stimme vom Kruzifix dem rauflustigen Gotteskämpfer (fast) immer verboten.
Der Durchbruch zum Monotheismus war das Ergebnis einer Religionskritik. Die Polytheisten, die sich Götter «von Menschenhand» gemacht hatten, waren an den Flüssen von Babylon von (Deutero)Jesaja und den anderen Exilanten aus Jerusalem als Selbstbetrüger entlarvt worden. Dabei hatten die Babylonier eigentlich nur getan, was in der alten Welt so ziemlich alle taten. Sie waren einem Vorläufer und entfernten Verwandten des Prinzips Hoffnung gefolgt, dem Prinzip Passung, jener Projektion, nach welcher jedes menschliche Interesse sich eine himmlische Adresse erschafft. Sie hatten sich etwas vorgemacht, ihren Wünschen und Hoffnungen Gestalt und Form gegeben. Fast überall in der alten Welt existierten Kultbilder, die oft durch Einwohnungsrituale, «Präsentifikationen»(Jan Assmann) spirituell aufgeladen wurden, so dass die jeweilige Gottheit in ihr Bildnis einfahren konnte und eine magisch zauberkräftige Gegenwart gewann.
Ein strenges Bilderverbot zu Beginn des biblischen Dekalogs sollte nun die Herstellung solcher Funktionsgötter verhindern, denn Israel hatte etwas Besseres: ein neues Medium. Seine geniale Alternative zum Kultbild war die Kultschrift. Es kam zu einem Medienwechsel. An die Stelle der Idolatrie trat eine Art Grapholatrie. Geschriebenes statt eines Bildes als heilig zu verehren, hatte sich angeboten, denn die Schrift hatte etwas an sich, das sie, jedenfalls für einen Gott, der kein selbstgemachtes Produkt eigener Interessen und Wünsche sein durfte, zum überlegenen Gottesmedium machte. Im Unterschied zum Kultbild, das die jeweilige Gottheit zum Verwechseln präsent machen konnte, war die Schrift grundsätzlich niemals das, was sie bezeichnete. Sie war das Medium der Differenz und Referenz, wie gemacht für die Offenbarungen eines Unsichtbaren. Das damals neue und bis heute gültige Proprium des biblischen Monotheismus war seine Simultaneität von Präsenz und Vorenthaltung. So konnte der Gott des Bilderverbots seine Weisung (Tora) mit Hilfe von Mose, seinem Sekretär, der sie im «Offenbarungszelt» aufschrieb, den Menschen zukommen lassen. Jetzt konnten sie nachlesen, was sie zu tun und zu lassen hätten. Im Falle des Dekalogs, dem «Zehngebot», war das auch hochplausibel: nicht stehlen, nicht lügen, morden, ehebrechen usw.
Die nächste Frage, die sich dem frommen Monotheisten stellen musste, war: Und was folgt daraus, wenn jemand eine dieser Weisungen übertritt? Jesus war ein frommer Jude, aber er rettete eine überführte Ehebrecherin vor der Steinigung, indem er den Schriftverehrern im Hof des Tempels zu Jerusalem eine Lektion erteilte. Er bückte sich und schrieb mit seinem Finger die Schrift in den Staub. (Joh 8, 1-11) Man erfährt nicht, was er schrieb, weil es darauf diesmal nicht ankam, nur darauf, dass er schrieb. Er schrieb zweimal. Nach dem ersten Mal richtete er sich auf, sagte den berühmten Satz, mit dem er die Frau rettete: «Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe als erster einen Stein auf sie», bückte sich und schrieb weiter in den Staub. Vielleicht sollten die jüdischen Leser dieses Textes auch noch an jene Urszene der Offenbarung auf dem Sinai denken, als der Finger JHWHs auf die steinernen Tafeln die Bundesurkunde geschrieben hatte (Ex 31, 18). Diesmal schrieb ein auffällig gewordener Rabbi in den Staub des Tempelbodens. Es war das einzige Mal, dass Jesus schrieb. Er hinterließ nichts Schriftliches, auch diesmal nicht, wahrscheinlich mit Absicht, denn das geschriebene war für ihn nicht das letzte Wort. Das Medium Schrift war für ihn defizitär.
Offenbar war die Ermittlung des göttlichen Willens nicht ganz so einfach. So genial die Schrift als Gottesmedium im Vergleich zum Kultbild auch war, die Gegenwart des Einzelfalles konnte sie nicht erfassen. Auch Jesus hielt die Tora als frommer Jude durchaus hoch, doch er wollte mehr als eine Schrift je kann. Indem er die Exekution dessen verhinderte, was das geschriebene Gesetz befahl, nämlich Ehebrecherinnen zu steinigen, markierte er den Abstand, den das in der Schrift ausgehärtete Wort vom Willen Gottes in einem Augenblick trennte, der nach Barmherzigkeit verlangte. JHWH, das große Gegenüber, war für Jesus wie ein barmherziger Vater. Am Ende entlässt er die Frau mit der Ermahnung, fortan nicht mehr zu sündigen. Der Dekalog blieb also durchaus in Kraft.
Jene seltsame Simultaneität von Präsenz und Vorenthaltung ist der Wesenszug der Schrift. Sie kann etwas Abwesendes in unser Bewusstsein zaubern. Das unterscheidet sie von allen anderen Dingen in der Welt. Sie ist das ideale Medium für einen Gott, dessen «Name» in der Mitteilung einer Präsenz besteht, die den Augen vorenthalten bleibt. Diese gewaltige Zusage trat leuchtend im Allerheiligsten Israels zutage, seinem «Ich bin da», in den vier Buchstaben JHWH. Dieses Tetragramm verbürgt die Gegenwart des Unsichtbaren. Niemals und nirgendwo war er nicht da. Was für eine Verheißung! Ihm baute Salomo seinen Tempel. Als dieser nach der Zerstörung durch Nebukadnezzar (587 v. Chr.) unter Kyros wieder aufgebaut wurde, (520-515) blieb sein Zentrum, das «Allerheiligste » leer. Die Bundeslade mit den steinernen Tafeln, die der Finger Gottes beschrieben hatte, war verloren. Diese Inszenierung einer in der Sprache der Steine sprechenden und lesbaren Leere wurde zur klarsten Form der Heiligung. Heiligung durch Aussparung: Bis heute nimmt kein frommer Jude den «Namen» in den Mund. Wenn er bei der Rezitation der Tora auftaucht, ersetzt er ihn durch «Adonai» oder «Ha Schem», d.h. «der Name». Der Evangelist Johannes lässt in seinem hymnischen Prolog die heiligen Buchstaben hinter sich. Diesmal wird aus Worten nicht Schrift, sondern aus einem singulär aufgeladenen «Wort», das «im Anfang» war, «Fleisch».
Alle Theologie will die Zeit verstehen, und der Fromme streckt sich nach der Präsenz des Heiligen aus. Wie oft kämpft schon ein Mensch, der spricht, gegen das spurlose Verklingen seiner Wörter? Sie verwehen im Wind. Manchmal glaubt er schon gewonnen zu haben, wenn er sie aufschreibt. Wer schreibt, der bleibt - solange das Geschriebene bleibt. Hier versteht man die mediale Vision der Buchreligionen: Könnte nicht eine Schrift, wenn sie denn von dem einen und einzigen Gott käme und somit heilig wäre, die nachparadiesischen Fragen nach seinem Willen klar und deutlich beantworten? Dazu passen die Erzählungen von Mose, dem Sekretär im Offenbarungszelt, vom König Joschija, der das verlorene Buch im verfallenden Tempel wiederfindet (2 Kön 22, 3-20), aber auch die vom Erzengel Gabriel, der dem ungelehrten Propheten Muhammad den heiligen Text ins Schreibrohr diktiert. Auch das Christentum ist nicht frei von Grapholatrie. Auch hier ist die Rede von heiliger Schrift. Doch verdient es nicht den Titel einer Buchreligion. Mit dem Satz vom Fleisch gewordenen «Wort» hatte der Johannesprolog eine entscheidende Transformation eingeleitet. Zweifellos ist erst einmal Jesus damit gemeint. In Geschichten wie der von der geretteten Ehebrecherin hatte man von ihm lernen können, wie man mit heiliger Schrift umgeht. Antasten wollte er sie nicht. Nicht der kleinste Buchstabe sollte aus der Tora entfernt werden (Mt 5, 18). Dann aber heißt es in der Bergpredigt weiter: «Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist, als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen». (Mt 5, 20)
Auch das Vaterunser stellt die Frage des nachparadiesischen Monotheisten ins Zentrum. Wer darum bittet, dass «dein Wille geschehe», muss ihn erfahren wollen und zwar jeden Tag neu, denn der Dekalog und die anderen Vorschriften der Tora können die Fragen des gerade heutigen Tages nicht abdecken. Was dort nachgelesen werden kann, braucht unter dem Diktum der verstreichenden Zeit ein tägliches Update. Es hilft nichts. Für dieses Pensum muss der Mensch um himmlisches Brot, die geistige Nahrung für jeden Tag bitten. Damit könnte er sich selbst zum Gottesmedium machen, so der Vorschlag Jesu in der vierten Bitte seines Gebets.1 Dann könnte auch in ihm das Wort Fleisch werden und das Defizit der Schrift wäre behoben. Gibt es also eine Inkarnation für alle, alle, die es machen wollen wie der Rabbi aus Galiläa? Im Johannesprolog heißt es denn auch: «Allen aber gab er Macht, Kinder Gottes zu werden.» Inkarnation für alle, «die an seinen Namen glauben»? (Joh 1, 12)
Weihnachten ist das Fest der Inkarnation. Der Evangelist Lukas gibt in den ersten beiden Kapiteln seines Evangeliums die Langfassung und erzählt, wie das bei Jesus im Einzelnen zugegangen sein sollte. Für Martin Walser ist die kunstvolle Komposition von der Verkündigung des Engels und der Geburt durch die Jungfrau Maria im Stall zu Bethlehem das «größte Stück Literatur», das er kennt. Wer wollte in diesen Tagen darauf verzichten? Aber Johannes hat den Punkt getroffen.
Anmerkungen
1 Vgl. Eckhard Nordhofen, Was für ein Brot? Was für ein Brot!, in: IKaZ 46 (2017) 3–23. Zuletzt erschien vom Autor das Buch: Media divina. Die Medienrevolution des Monotheismus und die Wiederkehr der Bilder, Freiburg 2022.