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Direktor der Katholische Akademie in Berlin e.V.
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Professor für dog-
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Leseprobe 2 DOI: 10.14623/com.2023.2.152–164
Joachim Negel
BANGE ERWARTUNG
Die Angst der Letzten Dinge
1. Wie von den Letzten Dingen sprechen? Wie nicht sprechen? Eine Situationsbeschreibung

Jede Zeit hat ihre apokalyptischen Ängste. Denn jede Zeit ahnt, dass sie irgendwann die Rechnung präsentiert bekommt für ihre Art, sich in der Welt einzurichten: für all das Gute, das sie dabei ins Werk gesetzt hat, aber auch für all das Fragwürdige, ja Böse, das aus dem (vermeintlich) Guten erwuchs. Ob es uns gefällt oder nicht: Unsere Art zu leben hat Konsequenzen, wenn vielleicht auch nicht für uns, so doch für jene, die nach uns kommen. Es sind immer die anderen, die für unsere Sünden zahlen müssen. Nicht nur im Ökologischen gilt dies, wenngleich es hier auf schlagende Weise anschaulich wird; auch im Ökonomisch-Politischen, im Gesellschaftlich-Sozialen, im Kirchlich- Religiösen wie im Zwischenmenschlich-Privaten ist dieses fatale Gesetz am Werk, wobei sich diese Felder ja immer vielfältig überlappen. Welche unabsehbaren Folgen, und zwar weltweit, hatte nicht der Kriegsausbruch von 1914, diese «Urkatastrophe» der jüngeren europäischen Geschichte! Noch unsere Enkel und Urenkel werden dafür zahlen müssen. Im kleineren Maßstab gilt das genauso. Welche Verwerfungen durch die Finanzkrise des Jahres 2008/09! Wieviele Menschen wurden hier nicht um ihre Existenz gebracht! Und im kirchlichen Bereich? Wo es doch «anders» sein soll als «in der Welt» (vgl. Mk 10,43) – verhält es sich da anders? Leider nur selten. Welche Zerstörung von Vertrauen und damit der Möglichkeit authentischer Gotteserfahrung nicht nur durch geistlichen oder sexuellen Missbrauch, vertuscht durch ein unbelehrbares Lehramt, das sich den dunklen Seiten seines Systems immer nur widerwillig zu stellen vermag, sondern durch den kirchlichen Reformstau insgesamt. Der Glaubwürdigkeitsverlust ist auf Generationen kaum wieder gut zu machen (man denke nur an das noch vor wenigen Jahrzehnten so katholische Irland).

Verwundert es, dass angesichts dieser Verwerfungen sich die Zukunftsbilder auf allen Ebenen dunkel färben: gesellschaftlich, politisch, kirchlich, sozial? Zufolge der Umfragen der Meinungsforschungsinstitute blickt angesichts von Umweltzerstörung, Digitaler Desinformation, Klimawandel, weltweiten Migrationsströmen, dem aggressiven Aufstieg Chinas und dem russischen Ukrainekrieg eine Mehrheit der Westeuropäer sorgenvoll in die Zukunft. Die Vorstellung, dass es der nachfolgenden Generation besser gehen werde als einem selbst – diese Form säkularer Heilserwartung, wie sie kennzeichnend war für die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg und noch einmal befeuert wurde durch den Zusammenbruch der bipolaren Welt im Revolutionsjahr 1989/90, ist erloschen. Die Zukunft erscheint dunkel, ob es Gott gibt, weiß man nicht, und von der Kirche, dieser merkwürdigen Stellvertreterinstitution, erwartet man sich sowieso nichts mehr. Und so stellt sich die Frage, wie in einer erwartungsmüden, von apokalyptischen Ängsten durchzogenen Welt Hoffnung zu finden sei. Wohlgemerkt: Hoffnung, nicht Optimismus! Der Unterschied ist einer ums Ganze. Im Gegensatz zu einem Optimismus, der unter Ausblendung der gnadenlosen Wirklichkeit davon ausgeht, dass alles schon gut wird1, ist der Ruf in die christliche Hoffnung von nüchternem Blick geleitet. Wir sollen die Welt sehen, wie sie ist: endlich, sterblich, fragwürdig. Uns allen blüht der Tod, das ist das einzige, was todsicher ist. Die Frage ist nur, welchen Tod wir sterben: den schäbigen Tod der selbstproduzierten Katastrophe oder den verheißungsvollen des Hinübergangs in jenes Licht, von welchem es heißt, dass es «im Anfang» war und uns ahnen lässt, dass «alles gut» ist und deswegen zuletzt «sehr gut» sein wird? (Gen 1,3f.31; Offb 21,1–4) Auch hier ist der Unterschied einer ums Ganze. Um seiner gewahr zu werden, muss man bereit sein, sich auf heilsame Weise erschrecken zu lassen (vgl. 1Petr 5,8). Heilsames Erschrecken ist das Gegenteil panischer Angst. Wie die Angstmacherei der dunkle Bruder des unverbesserlichen Optimismus ist, so der nüchterne Blick und das heilsame Erschrecken das Pendant zukunftsstiftender Hoffnung. Denn Hoffnung ist nichts, wozu man sich aus eigener Kraft ermannen könnte. Hoffnung wird einem geschenkt, so wie Glaube und Liebe, diese beiden anderen Kardinaltugenden, Geschenke sind, Samenkörnern vergleichbar, in einen Menschen leise hineingelegt. Dort sollen sie wachsen und reifen bis zur Ernte. (Mk 4,26–29) Was ist die Ernte? Die Ernte ist jene große Wirklichkeit, in welcher alles in seine Wahrheit findet. Kurzum: Die Ernte ist das Gericht.

Gericht: Das Wort hat für viele keinen guten Klang. Man assoziiert mit ihm Vorgänge der Hinrichtung, des Aburteilens, der Verdammnis (vgl. Offb 21,8; Mt 25,41–46; Lk 16,19–31). Dass hingegen Gottes Gericht ein «Licht» sein könnte «für die Welt», weil hier alles buchstäblich «aufgerichtet» wird und «ins Recht» kommt (Jes 26,9b), ist den meisten kaum noch vermittelbar. Daran ist sicherlich auch die Schwarze Pädagogik einer Verkündigung schuld, mit der über Jahrhunderte hinweg Menschen kleingehalten wurden.2 Aber da dürfte noch anderes im Spiel sein. Die Aussicht, Verantwortung übernehmen zu müssen für das eigene Leben, hat ja immer auch etwas Heikles. Sind wir mit der Verantwortung, die unser Tun und Lassen uns aufbürdet, nicht überfordert? An den selbstläuferischen Dynamiken von Technik, Wirtschaft und Politik kann der Einzelne kaum etwas ändern. Das System läuft auch ohne ihn, mag er noch so sehr an ihm partizipieren. «Ich bin ungefragt in dieses Leben hineingeworfen worden – und jetzt soll ich auch noch Verantwortung dafür übernehmen? Nein danke!» So tönt es bei vielen, und nicht wenige ziehen die Konsequenzen: «Es ist unverantwortlich, dem geschundenen Planeten noch mehr Bewohner aufzudrängen!» «Jeder nicht geborene Mensch ist in ökologischer Hinsicht ein Segen.» «Ich verweigere mich dem Gebärzwang!» «Lasst mich doch alle in Ruhe!»3 – Man versucht, sich die Unschuld zu bewahren. Ob das gelingt? Wohl kaum. Es ist nun einmal so: Dadurch, dass ich bin, werfe ich Schatten – keine schöne Vorstellung. Leben heißt neben manch Erfreulichem eben auch und nicht zuletzt, schuldig zu werden. Wie auch will man als endlicher Mensch unschuldig bleiben?! Man kann es nicht, und wer meint, es zu können, verstrickt sich in dem, was Johann Baptist Metz einmal sehr treffend den «heimlichen Unschuldswahn» der Moderne genannt hat:

«Schuld und Versagen suchen wir, wenn überhaupt, immer nur bei ‹den anderen›, bei den Feinden und Gegnern, bei der Vergangenheit, bei der Natur, bei Veranlagung und Milieu. Die Geschichte unserer Freiheit scheint zwiespältig, sie wirkt wie halbiert […]: die Erfolge, das Gelingen und die Siege unseres Tuns schlagen wir uns selbst zu; im übrigen aber kultivieren wir die Kunst der Verdrängung, der Verleugnung unserer Zuständigkeit, und wir sind auf der Suche nach immer neuen Alibis angesichts der Nachtseite, der Katastrophenseite, angesichts der Unglücksseite der von uns selbst betriebenen und geschriebenen Geschichte.»4



Anmerkungen

1 «Ein Optimist ist jemand, der dem Leben mit unverbesserlicher Zuversicht begegnet, einfach weil er ein Optimist ist. Optimismus ist […] keine Tugend, genauso wenig wie es eine Tugend ist, Sommersprossen oder Plattfüße zu haben. […] ‹Immer positiv denken› ist in etwa so vernünftig wie ‹Immer einen Mittelscheitel tragen› oder ‹Immer den Hut lüften, wenn der Hund sich löst›.» (Terry Eagleton, Hoff nungsvoll, aber nicht optimistisch, Berlin 2016, 15.)
2 Nur ein Beispiel, erzählt von Fridolin Stier (1902–1981), dem großen Bibelgelehrten und Dichtertheologen aus Tübingen: «In frühesten Erinnerungen herumstreifend […, begegne ich] auch wieder dem Gott meiner Kindheit […]. War ein gar strenger Herr, immer hinter uns Buben her, überall seine Augen und Ohren. ‹Ein Auge ist, das alles sieht, was auf der ganzen Welt geschieht.› Das war zuweilen recht lästig, würde heute wohl als ‹repressiv› empfunden. Nein, böse war er nicht, konnte sogar freundlich, großväterlich sein, wenn man brav war, sich an die Hausregeln hielt und die täglichen Gebetlein nicht vergaß. Es ließ sich eigentlich gut mit ihm zusammenleben, wenn man aufpasste. Wenn er nur nicht so reizbar gewesen wäre, so leicht, ob lässlich oder tödlich, beleidigt. In Sachen ‹Sünde› verstand er keinen Spaß. Da blieb nichts ungestraft. Pech bei einem Bubenstreich, gar ein Unglück im Dorf – nichts, das nicht als Strafgericht Gottes empfunden worden wäre. Diesen Gott verdankte man dem Herrn Pfarrer, der, selber ein strenger Herr, es mit der Moral der Gemeinde – nicht so sehr mit dem Liebes- als mit dem Sechsten Gebot – sehr ernst nahm. –– Es muss im August 1909, spätestens im Jahr darauf geschehen sein. Ein schweres Hagelwetter hatte die gilbenden Kornfelder fast plattgewalzt, die grünen Äpfel und Zwetschgen von den Bäumen gerissen, Gräben zu Bächen, Bäche zu Flüssen anschwellen lassen … Die Ernte war zum großen Teil vernichtet. Aber nicht genug! Am folgenden Sonntag hagelte es von der Kanzel herunter. Etwas sehr Böses war geschehen: Burschen und Mädchen hatten in einer Dorfwirtschaft bis tief in die Nacht getanzt. Getanzt! Gelacht, getrunken, gesungen, Händchen gehalten, sich in die Arme genommen, geküsst! Und dann der nächtliche Heimweg der Pärchen! ‹Was habt ihr da getrieben? Gott hat’s gesehen und den Hagel zur Strafe geschickt …› Der Bub brauchte nicht alles zu verstehen, um doch zu fühlen, dass die Sünde groß und die Strafe gerecht war. Einige Tage danach in der Schule. Religionsunterricht. Der Pfarrer, immer noch schlecht gelaunt, den Katechismus abfragend, die auswendig gelernten Antworten heischend. Auf einmal vom Nachbarhaus her großes Jammergeschrei, Klopfen an der Tür, der Pfarrer wird hinausgerufen … Was ist los? Eine Unglücksbotschaft läuft durchs Dorf: Die einzige Schwester des Pfarrers war in die Transmission der Ölmühle geraten und getötet worden. ‹Also muss der Pfarrer ein großer Sünder sein›, sagte sich der Bub; die Hagelpredigt ‹saß›. Erst später ging ihm auf, dass dieser simplifi zierte Moral- und Strafgott die Rolle eines Knecht Ruprecht zu spielen hatte, um kleine und große Kinder bei ‹Furcht und Zittern› zu erhalten.» (Fridolin Stier, Vielleicht ist irgendwo Tag. Die Aufzeichnungen und Erfahrungen eines großen Denkers, Freiburg i.Br. 1993, 16f.) – Zum kultur- und psychogeschichtlichen Hintergrund vgl. die beiden Standardwerke von Maurice Bellet (Le Dieu pervers, Paris: Cerf 1987) und Jean Delumeau (Le péché et la peur. La culpabilisation en Occident XIIIe– XVIIIe siècles, Paris: Fayard 1983).
3 Vgl. Ariadne von Schirach, Die psychotische Gesellschaft. Wie wir Angst und Ohnmacht überwinden, Stuttgart 2019.
4 Johann Baptist Metz, Unsere Hoff nung. Bekenntnis zum Glauben in dieser Zeit, in: Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. 1. Beschlüsse der Vollversammlung, Freiburg i.Br. 1976, 71–111, hier 93f. [...]


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