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Leseprobe 3 DOI: 10.14623/com.2023.2.190–197
Walter Kardinal Kasper
EIN GEBROCHENES VERHÄLTNIS ZUR MODERNE
Überlegungen zu meinem ersten Disput mit Joseph Ratzinger
Wenn ich einen Beitrag zu Joseph Ratzinger/Papst Benedikt XVI. und zu dem gegen ihn erhobenen Vorwurf eines platonisierenden Denkens schreiben soll, dann muss ich in meinen Erinnerungen 60 Jahre zurückgehen. Genau vor 60 Jahren 1963 sind wir uns erstmals und seither auf allen weiteren Stationen unseres Lebenswegs begegnet. Es waren damals die Aufbruchsjahre des Konzils, denen schon bald die Jahre der nachkonziliaren Probleme und Auseinandersetzungen folgten, die in den 60er Jahren immer deutlicher hervortraten. Fast alle Probleme, die heute in der Kirche kontrovers diskutiert werden, lagen schon damals auf dem Tisch.

I

In dieser nachkonziliaren Situation veröffentlichte Joseph Ratzinger sein erstes großes Buch «Einführung in das Christentum», das aus Vorlesungen in Münster und Tübingen hervorgegangen und dann in vielen Auflagen und Übersetzungen erschienen ist.1 Es ist ein Klassiker zeitgenössischer katholischer Theologie, der den Autor schlagartig berühmt machte. Gleich im Vorwort zur ersten Auflage machte Ratzinger klar, worum es ihm geht und was in der damaligen und auch noch heutigen Situation von Theologie und Kirche auf dem Spiel steht. Er wollte «im Nebel der Ungewissheit», den er sich ausbreiten sah, «den Glauben als Ermöglichung wahren Menschseins» neu zur Sprache bringen. In der Tat ist es der «Einführung in das Christentum» gelungen, vielen Menschen neu Orientierung und Freude am Glauben zu schenken.

In einer ausführlichen Rezension der «Einführung in das Christentum» habe ich viel Anerkennendes zu dieser außerordentlichen Veröffentlichung gesagt. Ich habe mir dann aber erlaubt, wie es in der theologischen Zunft üblich ist, auch Anfragen zu stellen. Einige waren etwas jugendlich vorlaut formuliert. Ich habe bei Ratzinger eine platonische Denkform ausgemacht und eine mehr handlungsorientierte Theologie vermisst.2 Diese These, die später auch von anderen Theologen aufgegriffene wurde, hat die Grundfragen angestoßen, an denen wir uns in den kommenden Jahren in immer wieder neuen Variationen festhaken sollten. Letztlich ging es dabei darum, wie das Verhältnis von Glauben und Vernunft, das Ratzinger seit seiner Bonner Antrittsvorlesung 1958 bewegte und das auch für mich zentral war, konkret anzugehen und zu beantworten ist.3

Manche, auch Ratzinger selbst, haben den Vorwurf einer platonisierenden Theologie als harsche Kritik empfunden. Die Antwort Ratzingers fiel entsprechend deutlich aus.4 Ich habe das lange Zeit nicht begriffen. Denn wer weiß, wer Platon war und was das platonische Denken für das abendländische Denken weit über Augustinus und Bonaventura hinaus noch in der Neuzeit bedeutet, der kann in dem Wort ‹platonisch› kein Schimpfwort sehen. Selbstverständlich wollte ich damit nicht sagen, Ratzinger sei in einem inhaltlichen Sinn Platoniker, was eine völlig unsinnige Behauptung wäre. Es ging auch nicht um die Enthellenisierung und insofern um eine «Entplatonisierung» des Christentums. Es geht um die platonische Denkform in den vielfältigen Ausprägungen des Platonismus. Den entscheidenden Unterschied zwischen platonischem und aristotelischem Denken hat Aristoteles in seiner Metaphysik klar auf den Begriff gebracht. Er kritisierte, dass bei Platon eine Kluft bestehe zwischen den Ideen der Dinge und der irdischen Wirklichkeit.5 Heute würden wir vielleicht sagen: Es mangelt an einer überzeugenden Vermittlung zwischen der idealen Welt und der alltäglichen Lebenswelt.

Joseph Ratzinger sah das Wesen platonischen Denkens darin, dass die Wahrheit nicht aus dem Pragma, d.h. nicht aus dem Tun des Menschen kommt, sondern einfach ist und vom Menschen empfangen wird. Doch diese These, dass Wahrheit nicht von uns «gemacht», vielmehr von uns empfangen wird, ist nicht allein platonisch, sie ist auch aristotelisch-thomistisch, sie ist der Ausgangspunkt jeder ernstzunehmenden Theologie. Doch es ist ein Grundprinzip bei Thomas von Aquin, dass zum Empfangen und Offenbarwerden der Wahrheit auch das empfangende Subjekt gehört, welches die Wahrheit entsprechend seiner subjektiven Möglichkeiten empfängt.6 Diese Einsicht findet sich, wie Ratzinger in seiner Habilitationsschrift zum Missvergnügen des Zweigutachters Michael Schmaus herausgearbeitet hat, auch bei Bonaventura. Auch nach Bonaventura hat die Offenbarungswahrheit nicht nur eine objektive, sondern auch eine subjektive Seite.7 Diese These ist für das genauere Verständnis des Verhältnisses von Glauben und Vernunft grundlegend.

Vernunft ist nie nur theoretische Vernunft, sie ist immer auch praktische Vernunft. Die praktische Vernunft ist freilich weder bei Aristoteles noch bei Thomas im Sinn der marxistisch verstandenen gesellschaftlichen Praxis gemeint, sie bezieht sich vielmehr allgemein auf das Handeln des Menschen, vor allem auf das ethische Handeln. Die angemahnte handlungsorientierte Theologie hat darum nichts mit der marxistischen Idee der Praxis zu tun. Die letztere war damals freilich in manchen theologischen Kreisen modisch geworden, und Ratzinger fürchtete, dass dies auch bei meiner Rede von einer handlungsorientierten Theologie der Fall war. So rückte er mich zwar nicht in die Ecke, aber doch in die Nähe des damaligen «Kritischen Katholizismus» und warnte vor dem damals sich ausbreitenden marxistischen Wahrheits- und Praxisverständnis, wonach die Praxis nicht in der Wahrheit gründet, vielmehr die Wahrheit der Praxis folgt. Die Wahrheit wäre dann letztlich nur ein ideologischer Überbau über die gesellschaftliche Praxis.

Mit dem «Kritischen Katholizismus» und erst recht mit dem damals oft populär vereinfachten Marxismus hatte ich weder damals und noch weniger heute irgendetwas im Sinn.Wenn ich von handlungsorientiert sprach, wollte ich andeuten, was ich damals in Münster bei dem Philosophen Joachim Ritter und dann später vor allem bei Hans-Georg Gadamer gelernt habe.8 Beide Denker sind des Marxismus völlig unverdächtig. Sie machten vielmehr darauf aufmerksam, dass es bei Aristoteles neben der theoretischen Philosophie, die deduktiv vorgeht, die praktische Philosophie gibt, welche die konkrete praktische Anwendung ihrer Prinzipien nicht logisch deduktiv ableiten kann, die ihre Prinzipien vielmehr mit Hilfe der Kardinaltugend der Klugheit auf die konkrete Situation und auf die vielfältigen kontingenten Umstände des Lebens anwendet.9 Diese Position hat sich Thomas von Aquin zu eigen gemacht, sie zugleich christlich vertieft und weitergeführt, indem er von der durch die Liebe geleiteten Klugheit gesprochen hat. Sie ist für ihn die recta ratio agibilium. Je konkreter es wird, um so unsicherer ist die praktische Anwendung der Prinzipien.10 Josef Pieper nennt die Klugheit darum das Situations-Gewissen.11 Man könnte die praktische Vernunft auch als Lebensweisheit bezeichnen, die bei der Anwendung der ethischen Prinzipien auf komplexe kontingente Situationen zur Entscheidungsfindung hilft.

Der christliche Glaube ist nicht nur Theorie, sondern auch gelebte Glaubenspraxis, welche die Wahrheit tut (Joh 8, 31f). Darum sind diese Überlegungen für die Bestimmung des Verhältnisses von Glauben und Vernunft einschlägig. Im Blick auf konkrete ethische Probleme hat Papst Franziskus darum die Position des Thomas von Aquin in dem Apostolischen Schreiben Amoris laetitia (2016) ausführlich dargestellt.12 Die Klärung all dieser Fragen war verständlicherweise in einer knappen Rezension nicht zu bewerkstelligen und war auch im zweiten Durchgang des Disputs nur im Grundsatz möglich. Immerhin wurden im zweiten Durchgang nach der grundsätzlichen Klärung wesentlich moderatere Töne angeschlagen. Ratzinger bezeichnete meine Antwort als nobel, und ich rechnete es ihm als Noblesse an, dass er mich bald danach zu einer Gastvorlesung an die Universität Regensburg eingeladen hat. So waren die anfänglichen groben Missverständnisse bald vom Tisch. Entscheidend war: Wir standen auf dem Boden gemeinsamer Glaubensüberzeugungen und hatten prinzipiell dasselbe Theologieverständnis, wonach der Theologie die Aufgabe zukommt, die Botschaft von Jesus Christus, wie sie im apostolischen Zeugnis übermittelt wird, im jeweiligen Heute gegenwärtig zu machen, d.h. sie intellektuell verstehbar zu machen und darüber hinaus sie als befreiende und zum Tun der Wahrheit ermutigende frohe Botschaft zur Sprache zu bringen.Allein so kann sie einen Beitrag zur Ermöglichung wahren Menschseins leisten.13

II

Mit dieser Klarstellung sind die Unterschiede zwischen Joseph Ratzinger und mir nicht einfach aufgehoben oder harmonisiert; sie sind vielmehr in einen gemeinsamen theologischen Rahmen eingeordnet und lassen sich damit besser verstehen. Ratzinger war ein zutiefst von der Theologie der Kirchenväter, besonders von Augustinus und von der augustinischen Tradition des Hohen Mittelalters geprägter Theologe. Selbstverständlich war er auch mit den aktuellen Strömungen der Theologie bestens vertraut, aber sein Herz schlug bei den Kirchenvätern.Wenn es um das Verhältnis von Glauben und Denken ging, dann verteidigte er die bleibende Bedeutung des griechischen, näherhin des platonischen Denkens in der Theologie und wandte sich gegen die Enthellenisierung des christlichen Glaubens, die er schon bei Martin Luther ausmachte, die vollends in der liberalen Theologie eines Adolf von Harnack und nicht zuletzt in der existentialen Theologie von Rudolf Bultmann zum Programm wurde.14

Einer der besten Kenner des Neuplatonismus, Werner Beierwaltes, hat überzeugend herausgestellt, dass es zwischen dem Neuplatonismus und dem neuzeitlichen Denken, besonders dem deutschen Idealismus, viele Berührungspunkte gibt.15 Ich habe den Eindruck, Ratzinger hat sich durchaus in die Diskussion mit dem modernen Denken, etwa mit Jaques Monod und vor allem mit Jürgen Habermas, eingelassen,16 aber er hat die umfassenderen Zusammenhänge zwischen Platon und der Moderne zu wenig bedacht und sich in seiner Regensburger Rede im Blick auf die Moderne durch eine Art Dekadenztheorie den inneren Zugang zum modernen Denken in seiner ganzen Komplexität verbaut.

Ich kam aus der Katholischen Tübinger Schule des 19. Jahrhunderts und ihrer Folgegeschichte im 20. Jahrhundert. Sie war durch ein geschichtliches Denken geprägt und wurde vor allem durch Johann Adam Möhler zu einem wichtigen Vorläufer der ekklesiologischen Erneuerung des 20. Jahrhunderts.17 Möhlers Ekklesiologie ist ohne der platonischen Partizipationsidee gar nicht zu denken.Außerdem hatte ich mich schon als Student in einer Preisarbeit mit den Quaestiones disputatae de veritate des Thomas von Aquin befasst (1954) und war dadurch weniger der augustinisch-franziskanischen, vielmehr der aristotelisch-thomistischen Tradition verpflichtet. Inzwischen weiß ich freilich, dass auch in Thomas, besonders in seinem Verständnis der participatio mehr platonisches Denken steckt, als man bisher angenommen hat.18

Die Befassung mit der Spätphilosophie Schellings19 setzt das Eindringen in die neuzeitliche philosophische Denkweise seit Kant und Hegel voraus, sie zeigt zugleich die Zusammenhänge mit dem platonischen und neuplatonischen Denken; schließlich wird beim späten Schelling die innere Krise des neuzeitlichen Denkens deutlich und der Weg zum nachidealistischen Denken bei Marx, Kierkegaard und Nietzsche geöffnet.Auch bei Kierkegaard, und von ihm abhängig die existentiale Theologie, ist, wie Beierwaltes gezeigt hat, der Einfluss Platons und des Neuplatonismus festzustellen.

Bei dieser, fast möchte man sagen, Allgegenwart Platons in der abendländischen Philosophiegeschichte würde eine Enthellenisierung als Entplatonisierung zum Ende der abendländischen Kultur führen, so wie wir sie bisher kannten. Das konnte mit dem Platonismus-Vorwurf nicht gemeint sein. Mich führte die Überwindung der neuzeitlichen Subjektivität beim späten Schelling schon sehr früh dazu, die an Karl Rahner orientierte transzendentale Thomasdeutung20 aufzugeben und an Stelle der anthropologisch gewendeten Theologie eine theologische Wende zu einer theologischen Theologie einzuschlagen.21

Die Trinitätslehre und die Selbstmitteilung Gottes in der Offenbarung ist ohne den platonischen Partizipationsgedanken nicht möglich. Denn wenn Gott Liebe ist (1 Joh 4,8.16), dann ist er in sich, wie in seiner Selbstoffenbarung, Selbstmitteilung. Diese Idee der Selbstmitteilung ist inzwischen Gemeingut der nachkonziliaren theologischen Erneuerung. Sie ist grundlegend bei Karl Rahner wie bei Ratzinger und in vielen anderen, auch meinen Schriften.22 Bei Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. steht «Gott ist Liebe» im Zentrum seiner Theologie; diesem Thema war auch die erste Enzyklika Benedikts (2005) gewidmet. Das Grundmotiv meines Denkens ist in Aufnahme und zugleich kritischer Weiterführung des neuzeitlichen Freiheitsgedankens das Motiv «Gottes Freiheit in der Liebe» zum strukturgebenden Zentrum theologischen Nachdenkens geworden. Von verschiedenen Ausgangspunkten her steht wie für Ratzinger auch für mich die Gottesfrage im Mittelpunkt des theologischen Denkens. Die unterschiedlichen Zugangswege führen freilich zu einer unterschiedlichen Durchführung im Verständnis dieser Idee und ihrer Vermittlung ins Heute.

III

Der Unterschied wird schon dadurch deutlich, dass bereits in der «Einführung in das Christentum» Joseph Ratzingers Begegnung mit der Moderne eher konfrontativ verläuft. Er argumentiert gegen den postmodernen Trend, den es zweifellos gab und noch immer gibt. Ich versuchte – mit Hegel gesprochen – in die Stärke des Gegners einzudringen, suchte dabei die positiven Aspekte der Neuzeit aufzuspüren und stark zu machen. Das bedeutet keine unkritische Anpassung, vielmehr einen mehr argumentativen Zugang und Umgang mit der Neuzeit, der ohne kritische Reinigung vieler ihrer Ideen nicht möglich ist. Das hat nichts mit anpasserischem Relativismus zu tun, den Ratzinger später als Grundproblem unserer postmodernen Situation geißelte. In «Das Absolute in der Geschichte» fragte ich vielmehr nach dem Absoluten in der Geschichte und Gottes souveräner Freiheit in der Welt und in der Geschichte mit uns Menschen, die auf der anderen Seite auch eine relative Autonomie der geschöpflichen Wirklichkeit besonders des Menschen bedeutet und damit einen Grundzug der neuzeitlichen Freiheitsphilosophie ernstnimmt und aufgreift. Sowohl Thomas von Aquin wie auch Bonaventura haben bedacht, dass die Offenbarung sowohl einen objektiven Aspekt, die souveräne, unableitbare und zugleich unbedingten Gehorsam einfordernde Zuwendung Gottes zum Menschen, wie einen subjektiven Aspekt hat, das freie Ja des Menschen in der Annahme des Geoffenbarten. Dabei ist der Mensch als «Hörer des Worts» kein abstraktes Wesen, er lebt an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Zeit, der Kultur und Sprache und bringt zugleich soziologisch wie psychologisch seine eigene Geschichte mit. Die Annahme der Offenbarung geschieht unter diesen kontingenten Umständen und in der Weise unserer geschichtlich gewachsenen menschlichen Erkenntnisund Sprachmöglichkeiten und kann nur unter Beachtung derselben weiterbezeugt werden.

Wir haben die absolute Wahrheit in zerbrechlichen irdischen Gefäßen (2 Kor 4,7) und haben sie nur im Akt der gläubigen geschichtlichen Annahme wie im Akt des geschichtlichen Weitergebens. Wahrheit ist keine Summe von wahren Sätzen, die man wie eine Münze von Hand zu Hand weitergibt, sie ist eher einem fließenden Licht zu vergleichen.23 So ist es für mich ein Rätsel, wie Ratzinger, der in seinen Bonaventura-Studien das subjektive geschichtliche Element der Erkenntnis reflektiert hat und eine entsprechende geschichtliche Sicht grundgelegt hat, eben diese später ziemlich undifferenziert als Relativismus kritisiert.

Aus dieser Perspektive ist Ratzinger ein kontemplativer platonischer Denker, dessen zahlreiche Bücher und Schriften, seine Enzykliken, Predigten, Reden, Ansprachen ein reiches geistliches Erbe hinterlassen, von dem auch in Zukunft viele theologisch wie geistlich zehren werden. Als Papst war er der Papa teologo, und als solcher wird er wohl in die Geschichte eingehen. Sein governo war ein governo magistrale.24 Das praktische governo war nicht so seine Sache, was er selbst als eine gewisse Schwäche bezeichnet hat.25 Das hat zu manchen praktischen Missgriffen und immer wieder zu schwierigen Krisen geführt, die das Pontifikat am Ende überschattet haben. Während er in seinen frühen Schriften in einigen Fragen für damalige Verhältnisse eine relativ offene Position vertreten hat,26 haben sich in seiner späteren Periode manche seiner Positionen verhärtet. So ist sein Pontifikat sowohl durch Reformaufbruch wie Reformstau gekennzeichnet. Benedikt XVI. selbst hat sich am Ende hellsichtig als Papst zwischen den Zeiten verstanden.27

Damit soll nicht bestritten werden, dass Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. als Präfekt wie als Papst wichtige Reformen angestoßen hat. Dazu nur ein Beispiel: Er hat u.a. das Verdienst, im Missbrauchsskandal gegen erhebliche Widerstände in der Kurie einen Perspektivenwechsel und einen neuen Kurs eingeleitet zu haben. Es war ein erster Schritt, der wie jeder erste Schritt entscheidend, aber auch unfertig und unvollkommen bleibt. Auf der anderen Seite gehen seine theologischen Einsichten zu diesem traurigen Thema einseitig von der modernen Gottesvergessenheit aus, die es leider gibt, klammert aber die kritischen Anfragen an die Kirche selbst aus.28 So kann man der Komplexität des Problems, vor allem den Leiden der Opfer, kaum gerecht werden. Die gemeinsame Grundlage und Zielsetzung der Theologie auf der einen Seite und andererseits die Unterschiede in der Durchführung und praktischen Anwendung haben zwischen uns immer wieder zu Disputen geführt, etwa über die Frage der wiederverheiratet Geschiedenen, über Universalund Ortskirche oder über ökumenische Fragen in Zusammenhang mit der Erklärung «Dominus Iesus» (2000). Solche Dispute gehören zu jeder rechtschaffenen Theologie.Wer daraus Entfremdung oder gar Feindschaft ableitet, hat von Theologie wenig oder nichts verstanden. Denn wie jede Wissenschaft lebt auch die Theologie vom Disput, und einen Denker ehrt man, indem man denkt. So war unser Verhältnis immer von gegenseitiger Achtung und vor allem von der gemeinsamen Verwurzelung im einen Glauben der Kirche und von gemeinsamer Verantwortung für die Einheit der Kirche wie zwischen den Kirchen geprägt. In diesem Geist hat der Papa emeritus, am 10. Dezember 2022, nur 20 Tage vor seinem Heimgang zu Gott mir einen freundschaftlichen, zustimmenden und ermutigenden Brief geschrieben. Ich werde trotz aller Unterschiede und Kontroversen Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. ein ehrendes Andenken bewahren.



Anmerkungen

1 Joseph Ratzinger, Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis, München 1968. Dieser Beitrag beschränkt sich im Wesentlichen auf die Frühzeit, die zugleich die Gründerzeit der Theologie von Ratzinger ist. So sehr es in Einzelfragen Änderungen seiner Position gibt, ist sie in ihren Grundlagen und Grundintentionen konsistent.
2 Walter Kasper, Das Wesen des Christlichen. Anfragen an die «Einführung in das Christentum» von Joseph Ratzinger, in: ThRv 65 (1969) 182–188 (WKGS 6, 450–461).
3 Joseph Ratzinger, Der Gott des Glaubens und der Gott der Philosophen. Ein Beitrag zur theologia naturalis, Trier 2006.
4 Joseph Ratzinger, Glaube, Geschichte und Philosophie. Zum Echo auf meine «Einführung in das Christentum», in: JKGS 4, 323–342. Meine Antwort in: WKGS 6, 462–471.
5 Aristoteles, Met. 991 b; 1079 a.
6 Thomas von Aquin, Summa theol. I q. 12 a. 4 und viele andere Stellen: Quidquid recipitur ad modum recipientis recipitur.
7 Joseph Ratzinger, Das Offenbarungsverständnis und die Geschichtstheologie Bonaventuras, in: JRGS Band 2, 99 ff ; 140 ff .
8 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 21960, 290–307
9 Aristoteles, Nik, Ethik, V,5.14;
10 Thomas von Aquin, Summa theol. II/II q. 43 a. 1–3; q. 94 a. 4.
11 Josef Pieper, Das Viergespann, München 1964, 25; Eberhard Schockenhoff, Art. Klugheit, in: LThK VI (1997) 151f.
12 Papst Franziskus, Amoris laetitia (2016), 304.
13 Die grundlegende Gemeinsamkeit hat Ratzinger in seinem Grußwort zur Festschrift zu meinem 75. Geburtstag anerkannt. Vgl. George Augustin und Klaus Krämer (Hg.), Gott denken und bezeugen, Freiburg i. Br. 2008, 9 f. Eine zutreffende Darstellung unseres Verhältnisses fi ndet sich bei Giovan Battista Brunori, Benedetto XVI. Fede e profezia del primo Papa emerito della storia. Prefazione di Padre Frederico Lombardi SJ, Milano 2017. Dagegen zeichnet die verdienstvolle, umfassend informative Biographie von Peter Seewald, Benedikt XVI. Ein Leben, München 2020, über unser Verhältnis teilweise ein von Vorurteilen und von einseitigen Informationen geprägtes Bild.
14 Dies wird besonders deutlich in der späteren Regensburger Rede (2006) über Glaube, Vernunft und Universität, in: Der Besuch in Bayern: Die Predigten und Reden, hrsg. von Friedrich Kardinal Wetter, Freiburg i. Br. 2006, 104–120.
15 Walter Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, Frankfurt 22004; Platonismus und Christentum, Frankfurt/M. 32014.
16 Jürgen Habermas – Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg i. Br. 2005.
17 Vgl. zusammenfassend Walter Kasper, Erneuerung aus dem Ursprung, Ostfi ldern 2021,13–19.
18 Cornelio Fabro, Der metaphysische Begriff der Partizipation nach Thomas von Aquin (1939).
19 Walter Kasper, Das Absolute in der Geschichte. Philosophie und Theologie der Geschichte in der Spätphilosophie Schellings, Mainz 1965 (WKGS 2).
20 Grundgelegt bei Karl Rahner, Geist in Welt, Innsbruck 1939; überarbeitet durch Johann Baptist Metz, München 21957.
21 Walter Kasper, Der Gott Jesu Christi, 479; Ders., Erneuerung aus dem Ursprung (s. Anm. 17), 39–47 ff , bes. Anm. 69 mit weiteren Nachweisen.
22 Karl-Heinz Menke, Art. Selbstmittteilung Gottes, in: LThK 9 (2000) 425 f. Interessant Eberhard Jüngel, Caritas fi de formata. Die erste Enzyklika Benedikts XVI – gelesen mit den Augen eines evangelischen Christenmenschen, in: Jan-Heiner Tück (Hg.), Der Theologenpapst. Eine kritische Würdigung Benedikts XVI., Freiburg i. Br. 2013, 33–57.
23 Zu Lichtmetapher und Lichtphilosophie und ihrer Bedeutung für den Offenbarungsvorgang vgl. den erhellenden Beitrag von Joseph Ratzinger in: Handbuch theologischer Grundbegriff e, Bd. 2, München 1963, 44–54.
24 So die These von Jan-Heiner Tück (Hg.), Der Theologenpapst (s. Anm. 22).
25 Benedikt XVI, Letzte Gespräche, München 2016, 266.
26 Joseph Ratzinger, Glaube und Zukunft, München 1970.
27 Benedikt XVI, Letzte Gespräche (s. Anm. 25), 262.
28 Joseph Ratzing er, Die Kirche und der Skandal des sexuellen Missbrauchs, in: Pastoralblatt 4 (2019)
75–81; wieder abgedruckt in: Che cos’ è il cristianesimo, Milano 2023, 143–160.

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