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Herausgeber und Redaktion |
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JOACHIM HAKE Direktor der Katholische Akademie in Berlin e.V. |
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URSULA SCHUMACHER
Professorin für Dogmatik an der Universität Luzern |
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JAN-HEINER TÜCK Professor für dog-
matische Theologie, Universität Wien |
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Herausgeber und Redaktionsbeirat stellen sich vor. |
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Lesermeinung von |
Anton Svoboda,
Dipl.-Theologe, Musiker
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Leseprobe 1 |
DOI: 10.14623/com.2023.4.364–375 |
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Ursula Schumacher |
BERUFUNG UND CHRISTLICHE EXISTENZ |
Spannungsfelder eines Berufungsgeschehens |
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Über lange Zeit hinweg war es eindeutig: Die Rede von einer «Berufung» bezieht sich auf den Eintritt in einen geistlichen Stand – auf die Entscheidung also, Priester oder Mitglied einer Ordensgemeinschaft zu werden – sowie auf die ihm vorangehenden Prüfungs- und Abwägungsprozesse. Durch eine solche inhaltliche Bestimmung gewinnt der Berufungsbegriff fraglos eine klare Kontur. Zugleich steht er damit aber auch in der Gefahr eines Elitarismus oder Klerikalismus, der alle Lebenswege jenseits der Wahl eines geistlichen Standes wenigstens indirekt abwertet und der gläubigen Selbstreflexion entsprechender Lebenswege jedenfalls das spirituelle Inventar des Berufungsgedankens verschließt. Auch gegenüber der mit dem traditionellen Konzept implizit angenommenen Reduzierung von Berufung auf eine einzige Weichenstellung im Leben – eben die der Berufs- bzw. Standeswahl – können mit guten theologischen Gründen Anfragen erhoben werden. Und so ist die jüngere theologische Reflexion des Berufungskonzepts klar von einer begrifflichen Ausweitung geprägt. Die komplexen, dialogischen Prozesse und Gegebenheiten, die der Begriff «Berufung» in äußerster Kürze zusammenfasst, können diesem neuen Zugriff zufolge in gewisser Hinsicht geradezu als koextensiv mit einem christlichen Existenzvollzug überhaupt gedeutet werden – gerade in einer Zeit des Schwindens volkskirchlicher Horizonte, in der Christsein wieder stärker zu einer bewusst gewählten und gelebten Option wird. Selbst über eine Rede von Berufung jenseits der Gegebenheit eines ausdrücklich christlichen Selbstverständnisses wird inzwischen nachgedacht.1
Diese konzeptionelle Ausweitung hat, wie gesagt, gute Gründe auf ihrer Seite. Sie erfordert fraglos aber eine eingehendere theologische Reflexion, soll eine völlige Entleerung des Berufungsbegriffs vermieden werden. Wie lässt sich also ein entsprechend ausgeweitetes Berufungsverständnis begrifflich bestimmen? Höchst instruktiv ist hier – gerade in seiner suggestiven Kürze – der ethisch-theologische Ansatz von Robert Merrihew Adams, der Berufung versteht als «a matter of what goods are given to us to love, and thus of our part in God’s all-embracing and perfect love».2 Dieser Ansatz evoziert das Gegeben-sein eines individuell geprägten und persönlich unvertretbaren Ortes des einzelnen Menschen im Gesamt des göttlichen Liebeswirkens. Möchte man den Berufungsbegriff noch stärker konkretisieren, so führt ein Rückgriff auf das von Adams ebenfalls fundierend herangezogene Beispiel Dietrich Bonhoeffers weiter, der – von Freunden noch im Jahr 1939 nach New York eingeladen – in Bezug auf den Gedanken einer möglichen Rückkehr nach Deutschland ein individuell bindendes Sollen empfindet.3 Bewertet man diese Empfindung als punktuell konkretisierte Wahrnehmung eines göttlichen Rufes, so scheint zur Realität von Berufung damit die bejahende Annahme eines situationsbezogen als unbedingtes Sollen erspürten göttlichen Individualwillens zu gehören. Nun haben Reflexionen zur Begriffsbestimmung aber auch der Tatsache Rechnung zu tragen, dass das Konzept von Berufung jenseits eines entsprechend klar und eindeutig verspürten Sollens auch das dafür fundierende, individuell und je situationsbezogen zu realisierende Streben nach einer Orientierung am Vorbild Jesu Christi bzw. am Maßstab der Liebe Gottes einschließt. «Berufung bedeutet, die je eigene Art und Weise der persönlichen Nachfolge zu finden»4 – und meint damit in einer bestimmten Hinsicht tatsächlich nichts weniger als die identitätsprägende Gesamtheit eines christlichen Lebensvollzugs.
Damit ist aber schon vom begrifflichen Zugang her klar, dass ein entsprechend ausgeweitetes Berufungsverständnis viele Facetten zu integrieren hat, die in dem älteren, (zu) eng gefassten Begriffskonzept keinen Raum hatten. Ja, wenn mit Berufung letztlich eine christliche Grundhaltung des hörenden bzw. suchenden Fragens nach Gottes Willen oder ein entsprechender christlicher «Lebensstil»5 bezeichnet ist, impliziert dies sogar eine sehr große begriffliche Fülle – denn dann verbindet sich damit ja nichts weniger als die Aufgabe, unter einer bestimmten Begriffshinsicht die gesamte Breite der Gestalten zu erfassen, die eine Orientierung an der Liebe Gottes im Leben von Menschen annehmen kann. Es legt sich der Gedanke an ein Bild nahe, das Piet Fransen im Blick auf die Realität der Gnade prägte. Diese lässt sich theologisch ja als Oberbegriff für die Zuwendung Gottes zum Menschen und die sich daraus entfaltende Beziehungsgeschichte zwischen Gott und Mensch deuten, und Fransen illustriert den Facettenreichtum dieses Geschehens, der von der scholastischen Tradition in die Reflexion verschiedener «Gnadenarten» gegossen wurde, mit dem Bild eines Prismas:6 Das farblose Licht bricht sich, ins Prisma geworfen, in eine Vielzahl von Farben auf – genau wie die Zuwendung des unendlichen Gottes zu endlichen Menschen in der Konkretion des jeweiligen Lebenskontextes eine Vielzahl verschiedener Wirkungen und Gegebenheiten evoziert. Analoges lässt sich auch über den Berufungsbegriff aussagen:Auch ein Lebensvollzug aus einer Haltung des Hörens auf Gottes Ruf heraus stellt sich als eine vieldimensionale Realität dar. Mehr noch: Diese Vieldimensionalität konkretisiert sich bei näherer Betrachtung in einer Vielzahl von polaren Spannungsfeldern, deren Reflexion somit einen Beitrag zur theologischen Klärung des Berufungsbegriffs leisten kann. Zehn konkreten Spannungsfeldern, die gesamthaft zu einem vertieften Verständnis der komplexen Realität eines Berufungsgeschehens beitragen können, sei im Folgenden daher die Aufmerksamkeit gewidmet.
1. Zwischen göttlicher Initiative und menschlicher Antwort
In dem Wort «Berufung» steckt das Wort «Ruf» bzw. die Verbalform «rufen». Damit ist bereits impliziert, dass eines über die mit diesem Begriff bezeichnete Realität in jedem Fall festzuhalten ist: Die Initiative dazu liegt bei Gott. Am Anfang eines jeden Berufungsweges steht die Zuwendung Gottes zum Menschen, die Eröffnung einer den Menschen individuell adressierenden Beziehung. Diese ist selbstverständlich durch innerweltliche Begegnungen und Erfahrungen vermittelt, sie wird von der geistlichen Tradition aber dennoch als ein wirkliches Kommunikationsgeschehen zwischen Gott und dem Menschen interpretiert, der sich persönlich in den Umständen seines individuellen Lebens angesprochen und gerufen fühlt – aufgerufen zu einer liebenden und lebenspraktisch konkretisierten Antwort. Denn genauso eindeutig, wie dieses Beziehungsgeschehen nicht anders als durch die allem menschlichen Leisten und Tun voranliegende göttliche Zuwendung eröffnet werden kann, so eindeutig kommt es auch dann nicht zustande, wenn der Mensch aus welchen Gründen auch immer die Bereitschaft zur affirmativen Antwort nicht aufbringt. Damit sich eine Berufungsgeschichte ereignen kann, ist als zweiter Spannungspol neben der göttlichen Initiative also auch die menschliche Zustimmung gefordert, die Bereitschaft eines Menschen dazu, sich von Gott ansprechen und beanspruchen zu lassen.
2. Zwischen Christi Vorbild und einer individuellen Gestalt von Nachfolge
Wenn unter Berufung die als bejahende Annahme eines Individualwillens Gottes vollzogene persönliche Christusnachfolge gedeutet wird, dann ist damit bereits ein zweites Spannungsfeld berührt: das nämlich zwischen dem christologischen Vorbild einerseits und der jeweils persönlichen Form der Orientierung daran andererseits. Zum einen ist und bleibt Jesus Christus der Maßstab, der einem christlichen Leben gegeben ist. In Christus ist dem Menschen das Urbild eines Lebens vor Augen gestellt, das sich restlos und absolut am Willen Gottes orientiert und gerade damit auch – als «der einmalig höchste Fall des Wesensvollzugs der menschlichen Wirklichkeit»,7 wie Karl Rahner es formuliert – die Möglichkeiten von Menschsein ausschöpft. Damit ist die Überzeugung festgehalten, dass menschliches Handeln unter einem nicht einfach ins individuelle Ermessen gestellten Maßstab steht, eine Überzeugung, die die Theologie auch dort festhält, wo etwa eschatologisch Christus als Richter und Maßstab im Gericht bewertet wird.8
Andererseits schließt ein theologisches Konzept von Berufung aber auch den Gedanken ein, dass sich im Menschenleben eine individuell konkretisierte Form der Nachfolge Christi realisieren kann und soll. So grundlegend der christologische Maßstab ist, so sehr steht damit doch zugleich auch fest, dass sich dieses Ideal nicht durch eine blinde Kopie einlösen lässt, sondern vielmehr nur in einer von Lebensumständen und Persönlichkeit mitbestimmten hohen Vielfalt verschiedener Realisierungsweisen konkretisieren kann; in den Worten Hans Urs von Balthasars: «‹Nachfolge›: ja, weil er sie gebietet, ‹Nachahmung›: nein, weil sie nicht möglich ist».9 Die Frage, wie sich Christusnachfolge innerhalb der Bedingungen und Gegebenheiten eines endlichen, konkreten Lebens realisieren kann, ist einem Berufungsweg damit ebenso tief eingestiftet wie der christologische Maßstab selbst.
3. Zwischen Berufung und Berufungen
Es wurde schon angedeutet, dass neuere berufungstheologische Ansätze sich von der – bis heute allerdings weit verbreiteten – Annahme10 abwenden, dass Berufung sich punktuell im Gestelltsein und Angenommenwerden einer einzigen großen Lebensaufgabe, konkret insbesondere einer Berufs- bzw. Standeswahl vollzieht. Dieses klassische Modell geht davon aus, dass die mit dem Begriff der Berufung bezeichnete Realität sich an einer einzigen Weichenstellung im Leben eines Menschen bündelt und entscheidet – eine Annahme, die auch impliziert, dass ein einmal abgelehnter Ruf Gottes ein Menschenleben sinnlos und leer werden lässt. Gegen diese Auffassung ist mit guten Gründen Einspruch erhoben worden.11 Gewiss gibt es Wegmarken und Weichenstellungen im Leben eines Menschen, an denen sich die Berufungsfrage in besonderer Dichte stellt und gewissermaßen wie im Brennglas bündelt. Wenn mit dem Begriff der Berufung aber der Aufruf zu und die Suche nach einer von den konkreten Lebensumständen geprägten Form der Christusnachfolge bezeichnet ist, dann besagt ja bereits diese Begriffsbestimmung, dass sich eine entsprechende Haltung nicht lediglich auf einen einzelnen Lebensmoment beschränken kann, sondern vielmehr den gesamten Lebensvollzug umgreifen wird. Die Berufungsfrage stellt sich damit im Grunde in einer täglichen Aufgegebenheit – wie schon zitiert, täglich neu als «a matter of what goods are given to us to love».12 Oder anders: Es geht darum, welcher Aufruf des Sollens sich einem Menschen in den täglichen, unmittelbaren Vorgegebenheiten seines Lebens entgegenbringt und wie durch die einzelnen, alltäglichen Entscheidungen und Vollzüge hindurch eine Gesamtgestalt des Lebens heranwächst, die – gewiss in aller menschlichen Gebrochenheit und nur unter der Kraft der Gnade – eine individuelle Form des Lebens in der Christusnachfolge heraus sein kann.
4. Zwischen Aufgabe und Gabe
Es war soeben die Rede von einem «Sollen», als das sich Berufung präsentiert. Diese Vorstellung entspricht weitgehend einem klassischen Berufungsverständnis, das darunter im Wesentlichen ein bestimmtes ethisch qualifiziertes Tun, eine Aufgabe – oder sogar eine Bürde und Last – versteht, die Gott einem Menschen zuweist und die vom Menschen zu übernehmen ist. Tatsächlich wäre ein Berufungsbegriff, der diese Dimension des Gerufenseins-Zu ausblendet oder vernachlässigt, problematisch verkürzend; es würde eine zu weitreichende Entleerung des Berufungsverständnisses bedeuten, wollte man darunter lediglich eine Erfahrung von Gottes Wohlwollen, Liebe und Zuspruch sehen, ohne dass dieser Erfahrung auch ein Sollensaspekt korrelieren würde. Aber die gegenteilige (und deutlich häufiger anzutreffende) Einseitigkeit ist ebenfalls als eine Verkürzung anzusehen: Auch die Dimension des Aufgegebenseins, die einer Berufungsrealität gewiss eignet, kann nicht einseitig verabsolutiert werden. Auch hier gilt es, beide Spannungspole gegenwärtig zu halten, statt die Polarität nach einer Seite hin aufzulösen. Berufung ist nicht nur Aufgabe, sondern auch Gabe, ein Geschenk Gottes an den berufenen Menschen – und Letzteres wohl sogar primär. Diese Aussage erschließt sich nicht nur aufgrund der erwähnten Rückbindung einer Berufungsrealität an die alles andere als selbstevidente Zuwendung des unendlichen Gottes zu (jedem!) endlichen Menschen, sondern ganz unmittelbar auch dann, wenn man sich vor Augen stellt, dass das Gefühl eines Beanspruchtseins, ein unvertretbares Sich-Gebraucht-Wissen ja für die Existenz eines Menschen kaum weniger wichtig ist als das tägliche Brot. Freilich, man mag hier einwenden: Der allmächtige Gott braucht natürlich den Menschen nicht im eigentlichen Wortsinn. Dass er sich dennoch in gewisser Weise an das liebende Ja und die daraus resultierende Mitwirkung des Menschen bindet, ist ein alles andere als selbstverständlicher – vielmehr sogar ein höchst erstaunlicher Gedanke und Ausdruck «des höchsten Geschenkes […], das Gott als Schöpfer machen kann, das Geschöpf eine echte ‹Zweitursache›, causa secunda, sein zu lassen».13 Das Bewusstsein, von Gott für das immer neu fragile und bedrohte Werden seines Reiches persönlich in Anspruch genommen zu sein, kann somit selbst in gewisser Weise als ein Geschenk angesehen werden. Diese Überzeugung darf nun allerdings keineswegs dazu verleiten, in der Bezugnahme auf das eigene Berufungsempfinden einem Habitus der Selbstherrlichkeit zu verfallen – ganz im Gegenteil: Einem spirituell gelebten Berufungsweg korreliert viel eher eine Haltung der Selbstrelativierung in Anerkennung der radikalen Dezentriertheit der eigenen Existenz und des Zurückbleibens des eigenen Tuns hinter dem Maßstab der Liebe Gottes.
5. Zwischen Autonomie und Theonomie
Eine der zentralen, vielleicht die zentrale Polarität von Berufungswegen spannt sich aus zwischen der menschlichen Selbstbestimmung einerseits und dem göttlichen Horizont andererseits, welcher dem Prozess menschlichen Selbstvollzugs vorgegeben ist. Es klang bereits an, dass ein Berufungsweg grundlegend den Gegebenheiten und Umständen eines persönlichen Lebens folgt, sich in diese einzeichnet und auch darauf ausgerichtet ist, dass der Mensch durch ihn zur Selbstverwirklichung findet – im positivsten Sinn dieses nicht unbelasteten Ausdrucks. Wie verhält sich dies jedoch zu der ebenfalls bereits thematisierten Annahme, dass ein Berufungsgeschehen unter der Vorgabe einer Orientierung am Lebensideal Jesu steht – oder, einer klassischen Bedeutungsdimension des Berufungsbegriffs folgend, sogar unter der eines göttlichen Individualwillens, also eines den konkreten Lebensvollzug des Individuums betreffenden Wollens Gottes? Hier liegt das vielleicht tiefste und schwierigste Paradox einer theologischen Deutung von Berufung.
Wie man dieses Paradox bewertet, entscheidet sich mit der theologischen Einschätzung der Rahmenbedingungen, in die menschliches Leben gestellt ist. Unter Zugrundelegung einer radikalen Autonomieannahme stellt sich der Gedanke einer maßstäblich vorgegebenen Orientierung an Gottes Willen bzw. Jesu Vorbild natürlich als eine Beschränkung menschlicher Freiheitsspielräume und als eine dementsprechende Überformung und Entfremdung dar.14 Nichts zwingt aber dazu, sich im Disput verschiedener Freiheitskonzepte für die an Thomas Pröppers Theologie orientierte Annahme einer streng autonomen, formal un-bedingten Freiheit des Menschen zu entscheiden – und ein breiter Strang der theologiegeschichtlichen Anthropologie (sowie nicht zuletzt wohl auch die Bibel15) vertritt eine grundlegend anders ansetzende Alternative, die den Menschen als ein auf Gott hingeordnetes Wesen ansieht, seine Freiheit folglich theonom versteht und einen Ruf Gottes somit nicht als heteronome Überformung, sondern vielmehr als einen Ruf in die Eigentlichkeit menschlicher Existenz deutet. Gerade über die Ein- bzw. Unterordnung des menschlichen in den göttlichen Willen vollzieht sich, folgt man dieser Auffassung, der Weg eines menschlichen Zu-sich-selbst-Findens.
Als paradigmatisches Beispiel für diese theologische Auffassung kann auf Hans Urs von Balthasars Konzeption einer Sendungsübernahme im Theodrama verwiesen werden, durch die der Mensch überhaupt erst zur Vollgestalt seines Personseins gelangt.16 Diesem Ansatz zufolge besteht zwischen menschlicher Selbstbestimmung und göttlicher Vorgabe nicht nur kein Widerspruch, sondern Gottes Wille richtet sich im Gegenteil sogar auf das, was den Menschen zur Vollform seiner Menschwerdung führt, darauf, dass Menschen «für sich werden können, was sie (immer schon) für Gott sind».17 «[D]ie vom freien Gott ergehende Erwählung, Berufung, Sendung, falls sie in Freiheit bejaht und übernommen wird, ist die höchste Chance des Menschen, sich zu personalisieren, seines eigenen Grundes oder seiner eigenen sonst unfindbaren Idee mächtig zu werden»,18 und es besteht somit «keinerlei Gefahr, daß die endliche Freiheit […] im Raum des Unendlichen sich selbst entfremdet würde».19
6. Zwischen Neigung und Geworfenwerden
Dieses sechste Spannungsfeld kann in gewisser Weise als konkretisierende Weiterführung des fünften verstanden werden: Zum einen ist es ein Grundaspekt der spirituellen Reflexion von Berufungserfahrungen, dass Gott Menschen mit allem beruft, was sie ausmacht – mit ihren Eigenheiten, Neigungen und Talenten.20 Der Beitrag, den ein Mensch zum Entstehen des Reiches Gottes leistet, ist also ein höchst individueller. Dies bedeutet aber nicht, dass Menschen nicht auch ein unvertretbar anzunehmendes Aufgegebensein von etwas spüren können, das weit außerhalb des Bereichs dessen liegt, was sie sich selbst zugetraut oder als Aufgabe für sich ausgewählt hätten. Mose, der seine Befähigung zum Reden und damit eine wichtige Voraussetzung zur Übernahme der ihm von Gott zugedachten Aufgabe bezweifelt (Ex 4, 10), ist nur ein (freilich prominentes) biblisches Beispiel dafür. Gottes Ruf kann einen Menschen also durchaus aus dem Bereich des Vertrauten und Zugetrauten, aus der Komfortzone gewissermaßen, herausführen.
7. Zwischen Freude und Last
Auch dieses siebte Spannungsfeld greift bereits berührte Aspekte der Berufungsrealität auf: Die Erfahrung von Berufung ist ausgespannt zwischen tiefer Freude einerseits und der Wahrnehmung und Annahme von Belastungen andererseits. Ersteres ist bereits in den Überlegungen zur Geschenkhaftigkeit von Berufung zum Ausdruck gekommen: Die Erfahrung, sich von Gott bejaht, angesprochen und beansprucht zu fühlen, kann – als Teildimension einer Gottesbeziehung – zutiefst erfüllen. Und andererseits implizieren nicht wenige Ausdeutungen des Berufungskonzepts eher den Gedanken, dass eine Berufung mit der Übernahme von Last oder Leid verbunden sein kann – mitunter wird dies sogar fast als Kriterium für die Echtheit einer Berufung angesehen. Letzteres führt wohl zu weit; auch bei der Prüfung von Lebensentscheidungen im Licht der Berufungsfrage wäre es verfehlt, den leidvolleren und schwierigeren Weg einfachhin als den rechten und gebotenen anzusehen, nur weil er schwieriger ist. Zu den Grunddimensionen von Berufungserfahrungen zählt durchaus aber die Bereitschaft dazu, aus dem Spüren eines unbedingten situationsbezogenen Sollens heraus auch Nachteile für die eigene Person in Kauf zu nehmen und zu versuchen, diese im Fall ihres Eintretens auszuhalten – die bereits erwähnte Entscheidung Bonhoeffers zugunsten einer Rückkehr nach Deutschland legt sich zur Illustration dieser Annahme nahe. Einem solchen Umgang mit Leid liegt die vertrauende Gewissheit zugrunde, dass der konkreten Beanspruchung eines Menschen durch Gott auch die Mitteilung der dafür erforderlichen Kraft korreliert – eine Überzeugung, die eine exemplarische Illustration in 1 Kön 19, 5–8 findet, wo erzählt wird, wie Elija für seinen Auftrag durch Engelsendung und Nahrungsgabe Stärkung erfährt. Einen adäquat vernommenen Ruf Gottes begleitet also, so die damit narrativ zum Ausdruck gebrachte Überzeugung, die Mitteilung dessen, was die Übernahme aller daraus resultierenden Konsequenzen ermöglicht.
8. Zwischen Alltäglichkeit und Heiligkeit
Eine Berufungsrealität kann weiterhin auch reflektiert werden als ausgespannt zwischen einer Einfügung in Zusammenhänge des Alltags und dem in gewisser Hinsicht alles Alltägliche überschreitenden Transparent-Werden auf die Liebe Gottes hin. Zum einen resultiert aus den bisherigen Überlegungen bereits, dass jede Lebenssituation eines Menschen der Horizont eines Berufungswegs sein und Berufung sich prinzipiell überall ereignen und konkretisieren kann – an jedem sozialen Ort, in jedem Beruf, an ausnahmslos jeder Stelle, an die Eine Berufungsrealität kann weiterhin auch reflektiert werden als ausgespannt zwischen einer Einfügung in Zusammenhänge des Alltags und dem in gewisser Hinsicht alles Alltägliche überschreitenden Transparent-Werden auf die Liebe Gottes hin. Zum einen resultiert aus den bisherigen Überlegungen bereits, dass jede Lebenssituation eines Menschen der Horizont eines Berufungswegs sein und Berufung sich prinzipiell überall ereignen und konkretisieren kann – an jedem sozialen Ort, in jedem Beruf, an ausnahmslos jeder Stelle, an die ein Mensch in der Menschheitsgeschichte gestellt ist. Kein Raum zwischenmenschlichen Miteinanders ist herausgenommen aus dem Wirk- und Zielbereich des göttlichen Heilswillens. Andererseits gilt zugleich aber auch, dass sich dort, wo ein Mensch seine Berufung annimmt und sich vorbehaltlos in Gottes Willen einfügt, die Welt verwandelt. Und dies lässt sich durchaus in der Kategorie der Heiligkeit reflektieren. Gewiss ist die Beobachtung nicht einfach falsch, dass in der Reflexion von Berufung im Licht der Kategorie von Heiligkeit «nahtlos Ironie, Herrschaftskritik, Etikett, biblische Rede und Kabarett ineinander über[gehen]»;21 der Begriff des «Heiligen» ist zweifelsohne vorbelastet und nicht selten missbräuchlich oder verfehlt verwendet worden. Das impliziert aber nicht, dass dieser Begriff für die theologische Reflexion einer Berufungsrealität einfachhin unbrauchbar wäre. Einen bedenkenswerten Ansatzpunkt für eine sachadäquate Begriffsverwendung bietet Romano Guardinis Reflexion zu den «Heiligen der Unscheinbarkeit»: Die gegenwärtigen Heiligen, so Guardinis Grundgedanke, zeichnen sich nicht mehr unbedingt oder primär durch das Vollbringen des Außergewöhnlichen, des Heroischen und Herausragenden aus. In tiefer Verborgenheit tun sie vielmehr das, «was von Mal zu Mal die Stunde» fordert – dies allerdings in der Haltung einer «immer größeren Reinheit der Liebe».22 An diesen Heiligen ist es somit, «zu tun, was jetzt das Richtige ist, weil es Gottes Willen erfüllt. Und es so zu tun, wie Liebe getan sein will: lauter und gern.»23 Das mag auf den ersten Blick banal erscheinen, als etwas Geringes, etwas zu Geringes jedenfalls, um das Attribut der Heiligkeit zu verdienen – bei eingehenderer Reflexion aber zeigt sich doch, dass die von Guardini beschriebene Haltung alles andere als eine Geringfügigkeit ist, so verborgen ihre Realität auch sein mag. In jedem Fall konturiert sie eine Semantik des Heiligkeitsbegriffs, die sich durch das Maßnehmen am Kriterium eines stillen, unprätentiösen Handelns aus Liebe gegen frömmlerische ebenso wie auch gegen karikierende Begriffsdeutungen abgrenzt. Und sie leistet zudem einen Beitrag zur Vermeidung einer Entleerung des Berufungsbegriffs durch seine eingangs skizzierte begriffliche Ausweitung: Berufung kann sich überall ereignen, auch im Verborgenen – damit ist aber weder die Dimension eines damit verbundenen Anspruchs preisgegeben noch einfach jeder Maßstab jenseits persönlichen Empfindens aufgehoben.
9. Zwischen Nachgehen und Abweichen
Eine Spannung ergibt sich in der Realität eines vollzogenen Berufungswegs auch aus der Schwäche des Menschen, genauer, aus der konkupiszenten Desintegriertheit des menschlichen Willens und Handelns. Ein willentlicher Akt der Selbstverfügung dahingehend, einem Ruf Gottes Folge zu leisten, ist vor diesem Hintergrund ja keineswegs bereits hinreichende Voraussetzung für das Gelingen eines Berufungswegs; vielmehr bleibt ein tägliches Ringen um den Vollzug eines entsprechenden Willensaktes sowie das Gebet um die dafür tragende Gnade lebenslange Aufgabe und Herausforderung. Das eingangs am Beispiel Dietrich Bonhoeffers konkretisierte Spüren eines situationsbezogenen Sollens ereignet sich ja allenfalls punktuell, wenn überhaupt; jedenfalls manifestiert sich in einem Menschenleben ebenso auch die verunklarende Wirkung alltäglicher Banalität oder, einschneidender noch, grundlegende Zweifel bezüglich der Richtigkeit der Berufungsfrage und des Gegebenseins eines entsprechenden göttlichen Rufes. Und diese Tatsache stellt sich nun der theologischen Reflexion auch keineswegs ausschließlich und eindimensional als Sünde dar, auch wenn eine als sündhaft zu qualifizierende Störung der Gottesbeziehung sich fraglos entsprechend auswirken mag. Andere Faktoren sind aber schlicht die Endlichkeit und Begrenztheit des «Hörers des Wortes», zudem aber auch die Nichtfestlegbarkeit des göttlichen Rufes, der menschliche Antizipation und Erwartungshaltungen immer wieder durchbricht. Auch die mögliche Erfahrung einer mystischen Nacht der Abwesenheit Gottes ist in diesem Kontext in die – stets nur tastenden – Deutungsversuche einzubeziehen.Wichtig ist allerdings eines: Ein Spüren der eigenen Unzulänglichkeit, das sich nur zu leicht aus der Erfahrung der Zuwendung Gottes ergibt, gewinnt dort eine zerstörerische Macht, wo es das besonders in der Empfindung von Begrenztheit und Fehleranfälligkeit erforderliche Vertrauen auf Gott stört oder sogar unterbindet. «Gerade die schuldige Kreatur muß sich unter das heilende Wort Gottes stellen und seinem Heilswillen sich übergeben. Das ist ihre Leistung bei der Überwindung der Schuld: die Übergabe».24
10. Zwischen Suchen und Finden
Dieses letzte Spannungsfeld bezieht sich nicht einfach nur auf die Polarität zwischen dem innergeschichtlichen Vollzug eines Berufungsweges und seiner eschatologischen Vollendung – obwohl es natürlich zutreffend ist, dass die eschatologische Hoffnung auch ein Hoffen darauf einschließen darf, dass der irdisch-fragmentierten Sicht auf die Weltabläufe eine übergeordnete Perspektive und auch die Einsicht in Sinnzusammenhänge erschlossen wird, die sich selbst inmitten all des Fraglichen und Unvollkommenen, ja, allzuoft nur sinnlos oder sogar völlig sinnwidrig Erscheinenden in der Weltgeschichte noch auftun mögen. Aber die Spannung zwischen Suchen und Finden prägt ja bereits die irdische Geschichte eines Menschen mit Gott. Wie die Gnade von der Tradition als inchoatio gloriae, als keimhafter Anfang der eschatologischen Vollendungsrealität angesehen wurde, so können auch die Kulminationspunkte einer Berufungs- bzw. Beziehungsgeschichte zwischen Gott und Mensch, in denen sich ein gewisses Spüren der Nähe Gottes ereignet, als schattenhaftverschwommene, gebrochene Vorwegnahme des eschatologischen Eintretens in die volle Gottesgegenwart angesehen werden. Auch diesbezüglich ist selbstverständlich die Gefahr von Autosuggestion oder Einbildung nicht einfach per se auszuschließen. Es würde aber zu einem völligen Bruch mit der spirituellen Tradition des Christentums führen, wollte man aus dieser Unhintergehbarkeit einer letzten hermeneutischen Ungewissheit die gänzliche Illegitimität der Frage nach einem möglichen Hören der Stimme Gottes oder einem Spüren der Nähe Gottes ableiten.
Fazit
Diese skizzenhafte Reflexion zu Spannungsfeldern eines Berufungsweges mag einen Einblick in die Vieldimensionalität dieses spirituellen Konzepts erschlossen haben. Manche Topoi konnten nur berührt werden, an manchen Stellen wäre sogar eine noch sehr viel eingehendere theologische Reflexion erforderlich: Dies gilt insbesondere für die Konzeption des Wirkens Gottes in der Geschichte und für die schwierige Frage nach einer Kriteriologie für das Hören auf den Ruf Gottes, die von der spirituellen Tradition unter dem Oberbegriff der «Unterscheidung der Geister» verhandelt wurde. Der Befürchtung einer gänzlichen Entleerung des Berufungskonzepts durch seine Ausweitung zu einem Leitbegriff für spirituelles Leben in der Nachfolge Christi steht aber doch entgegen, dass auch ein solches erweitertes Berufungskonzept sich keineswegs gänzlich dem Anliegen einer begrifflichen Präzisierung gegenüber versperrt (wenngleich eine Begriffsdefinition naturgemäß offener ausfällt als unter Voraussetzung der traditionellen Beschränkung auf Priester- und Ordensberufungen) – ein Anliegen, zu dem auch die Auseinandersetzung mit den Spannungsfeldern einer Berufungsrealität ihren Beitrag geleistet haben sollte. Und so bleibt festzuhalten, dass die Erschließung des Berufungskonzepts für die religiöse Selbstreflexion auch jenseits des Eintritts in einen geistlichen Stand einen hohen spirituellen Gewinn verheißt und eine Bereicherung der theologischen Reflexion darstellt.
Anmerkungen
1 Vgl. etwa Hernán Rojas, «Wohin, Herr, willst du mich bringen?». Eine Theologie der Berufung im Gespräch mit Karl Rahner, Innsbruck – Wien 2022, 42–44.497f. 2 Robert Merrihew Adams, Finite and infinite goods. A framework for Ethics, New York 1999, 302. 3 Adams, goods (s. Anm. 2), 293. 4 Rojas, Herr (s. Anm. 1), 474. 5 Paul C. Donders – Peter Essler, Berufung als Lebensstil. Aufbrechen in ein wertvolles Leben, Münsterschwarzach 2011. 6 Piet Fransen, How should we teach the treatise on grace?, in: James Keller – Richards Armstrong (Hg.), Apostolic Renewal in the Seminar. In the Light of Vatican Council II, New York 1965, 139–163, hier 221. 7 Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg i. Br. – Basel – Wien, 223. 8 Vgl. etwa Johanna Rahner, Einführung in die christliche Eschatologie, Freiburg i. Br. – Basel – Wien 2010, 206. 9 Hans Urs von Balthasar, Katholisch. Aspekte des Mysteriums (= Kriterien 36), Einsiedeln 1975, 26. 10 Vgl. dafür etwa Karl Rahner – Herbert Vorgrimler, Art. Berufung, in: Kleines Theologisches Wörterbuch, Freiburg i. Br. 101976, 55: «Berufung meint die Erkenntnis eines Einzelnen, daß ein bestimmter Beruf (Lebensform) dem (erlaubenden oder befehlenden) Willen Gottes entspricht und die Verwirklichung der Lebensaufgabe ist, in der man sein ewiges Heil wirken kann». 11 Vgl. etwa Rojas, Herr (s. Anm. 1), 164–167. 12 Adams, goods (s. Anm. 2), 302. 13 Hans Urs von Balthasar, Homo creatus est (= Skizzen zur Theologie 5), Einsiedeln 1986, 159. 14 Vgl. etwa Oliver Wintzeks Einspruch, Berufung – Plädoyer gegen ein Willkürkonzept, 22 Juni 2022, https://www.feinschwarz.net/berufung-plaedoyer-gegen-ein-willkuerkonzept und https:// www.feinschwarz.net/berufung-teil-ii (zuletzt abgerufen am 25.05.2023). 15 Vgl. exemplarisch die Feststellung: «Ein nicht-theologisch begründeter Freiheitsbegriff ist der Bibel völlig fremd», Rainer Kampling, Art. Freiheit, in: Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, Darmstadt 22009, 190–192, hier 191. 16 Hans Urs von Balthasar, Theodramatik, Bd. II/2, Die Personen in Christus, Einsiedeln 1978, 241– 259. 17 Balthasar,Theodramatik II/2 (s. Anm. 16), 248. 18 Balthasar,Theodramatik, II/2 (s. Anm. 16), 241. 19 Hans Urs von Balthasar, Theodramatik, Bd. II/1: Der Mensch in Gott, Einsiedeln 1976, 235. 20 Vgl. Mt 25, 14–30 – man beachte die semantische Multivalenz des Wortes «Talent». 21 Manfred Scheuer, Der Mensch ist Ruf Gottes. Zur theologischen Grundlegung von Berufung, in:Theologisch-Praktische Quartalschrift 150 (2002) 53–62, hier 60. 22 Romano Guardini, Der Heilige in unserer Zeit, in: ders., Der Weg zum Mensch-Werden, Mainz 1975, 66–87, hier 72 23 Guardini, Heilige (s. Anm. 22), 72. 24 Alfred Delp, Mit gefesselten Händen. Aufzeichnungen aus dem Gefängnis, Freiburg i. Br. 2007, 196.
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