 |
Herausgeber und Redaktion |
 |
JOACHIM HAKE Direktor der Katholische Akademie in Berlin e.V. |
  |
URSULA SCHUMACHER
Professorin für Dogmatik an der Universität Luzern |
  |
JAN-HEINER TÜCK Professor für dog-
matische Theologie, Universität Wien |
 |
Herausgeber und Redaktionsbeirat stellen sich vor. |
 |
|
Lesermeinung von |
Anton Svoboda,
Dipl.-Theologe, Musiker
Lesen Sie hier |
 |
|
|
|
 |
|
|
|
Leseprobe 1 |
DOI: 10.14623/com.2023.5.473–481 |
|
Michael Seewald |
VERGESSEN ALS MODUS DER LEHRENTWICKLUNG |
 |
1. Erinnern und Vergessen: zwei Seiten einer Medaille
Milan Kundera schrieb fast zwei Jahrzehnte nach seinem Welterfolg über Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins einen kleineren Roman, den der von Prag nach Paris emigrierte Schriftsteller in französischer Sprache verfasste: L’ignorance. Erzählt wird darin von Irena, einer tschechischen Emigrantin, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ihre alte Heimat besucht und feststellt, dass die Dortgebliebenen sich nicht nur an anderes erinnern als sie selbst, sondern auch andere Dinge vergessen haben. Dasselbe gilt für die Emigranten, denen Irena begegnet. Die Ausgewanderten haben nicht bloß ihre eigenen Erinnerungen an ihre frühere Heimat mit sich genommen, sie haben auch ein je individuelles Vergessen über ihr altes Leben gebreitet. Die Erzählstimme reflektiert: «Wenn zwei Wesen in derselben Wohnung zusammenleben, sich jeden Tag sehen und sich auch noch lieben, stimmen ihre täglichen Unterhaltungen ihre Erinnerungen aufeinander ab: durch stilles Einvernehmen und unbewusst lassen sie weite Gebiete ihres Lebens dem Vergessen anheimfallen und sprechen wieder und wieder von einigen wenigen und immer denselben Ereignissen, aus denen sie dieselbe Geschichte weben, die wie eine Brise in den Ästen über ihren Köpfen säuselt und sie dauernd daran erinnert, dass sie zusammengelebt haben.» Kundera begnügt sich nicht damit, Vergessen als das Ergebnis eines passiven Entfallens oder des unbeabsichtigten Entgleitens eines Ereignisses aus der Erinnerung zu verstehen, sondern er sieht das Vergessen als einen sozial ebenso voraussetzungsreichen Vorgang an wie das Erinnern. Kollektives Erinnern setzt eine Gemeinschaft voraus, die ihre Erinnerungen aufeinander abstimmt und in diesem Prozess der Akkordanz auch ein implizites Urteil darüber fällt, was vergessen werden soll. Beide, Erinnern und Vergessen, sind daher zwei Seiten einer Medaille.
Es ist also kein Zufall, dass das erste Heft der 2008 gegründeten Zeitschrift Memory Studies einen Beitrag über sieben Typen des Vergessens enthält. Kollektives Erinnern beruht auf Wertung und Wiederholung. Wenn eine Gruppe oder Gemeinschaft etwas als wichtig erachtet, macht sie es zum wiederkehrenden Gegenstand der Kommunikation, wodurch es in Erinnerung bleibt. Gilt etwas hingegen als nicht bedeutsam, unterbleibt die Thematisierung, sodass sich kein Erinnern einstellt. Wird etwas als nicht mehr von Bedeutung angesehen, setzt die Wiederholung aus und der Zirkel von Reproduktion und erinnerungsförmiger Aktualisierung wird unterbrochen, sodass etwas vormals Erinnertes in Vergessenheit gerät. Erinnern und Vergessen sind verflochten, da der Raum des Kommunikativen zeitlich strukturiert und damit begrenzt ist. Wo etwas Sinnvolles gesagt wird, bleibt mehr ungesagt als thematisiert werden kann. «Sinn oktroyiert eine Form für Erleben und Handeln, die Selektivität erzwingt. Sinn erscheint als Simultanpräsentation von Möglichem und Wirklichem, die alles, was intentional erfaßt wird, in einen Horizont anderer und weiterer Möglichkeiten versetzt. […] Weltkonstituierender Sinn verweist auf jeweils mehr Möglichkeiten, als im Erleben und Handeln aktuell nachvollzogen werden können – das gilt für konkrete Dinge und Ereignisse, für Zeichen und abstrahierte Symbole, für Meinungen anderer und für Zwecke, aber auch für Negativa wie Mängel, Abwesenheiten, Unterlassungen. In allem sinnhaften Erleben und Handeln wird laufend mehr appräsentiert, als repräsentiert werden kann.» Dem wenigen durch Erinnerung sinnvoll Repräsentierten korrespondiert stets ein Mehr an Appräsentiertem. Gruppen oder Gemeinschaften, die sich identitär in der Zeit verorten, repräsentieren ihre Vergangenheit durch gemeinsames Erinnern und appräsentieren sie zugleich durch gemeinsames Vergessen. Dies gilt für politische Gebilde – Ernest Renan formulierte bereits 1882, das Wesen einer Nation bestehe darin, dass ihre Angehörigen dieselben Dinge vergessen haben –, es gilt aber auch für Religionsgemeinschaften, wie die katholische Kirche.
Jenen, die sich aus soziologischer oder religionsphilosophischer Perspektive mit der Kirche befassen, ist diese Einsicht nicht neu. Danièle Hervieu-Léger zum Beispiel, die religiösen Glauben als chaîne de mémoire, als das Fortschmieden einer Kette der Erinnerung versteht, ist sich darüber im Klaren, dass diese Kette nur durch selektives Vergessen, Aussieben und Umdeuten des Vergangenen überhaupt zustande kommt. In der katholischen Theologie hingegen scheint die Bedeutung des Vergessens selten zum Thema zu werden. Der erinnerungsstiftende Zusammenhang von Wertung und Wiederholung ist zwar bekannt. Die Kirchenkonstitution Lumen gentium nennt verschiedene Kriterien, durch die die Absicht und der Wille (mens et voluntas) des Papstes in Ausübung seines Lehramtes gedeutet werden können. Eines davon sei die «Häufi gkeit der Vorlage ein und derselben Lehre» (LG 25) – eine Formel, die sowohl kirchenrechtlich als auch in der kurialen Selbstbeschreibung dogmatischen Lehrens, etwa in der Instruktion Donum veritatis (vgl. DH 4878), rezipiert wurde. Verbalisiert wird der Zusammenhang von Wertigkeit und Wiederholung jedoch nur im Hinblick auf das normativ zu Erinnernde. Dass dieser Zirkel auch die Möglichkeit der Lehrentwicklung bietet, indem bei sinkender Wertigkeit die Wiederholung bestimmter Doktrinen ausgesetzt wird und diese damit in eine (noch näher zu bestimmende) Art des Vergessens geraten, wird in magisterialen Dokumenten nicht reflektiert.
2. Ein Fallbeispiel: Der Monogenismus und sein Verschwinden
Bereits im Pontifikat Pius‘ XII. gab es umfangreiche Vorarbeiten zu einem Ökumenischen Konzil. Der Papst entschloss sich jedoch, auf die Einberufung dieser Synode zu verzichten und die Konzilsvorbereitungen stattdessen in zwei Lehrentscheidungen des Jahres 1950 einfließen zu lassen: in die Dogmatisierung der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel, die Pius XII. ex cathedra verkündete (vgl. DH 3903), und in die bereits einige Monate zuvor veröffentlichte Enzyklika Humani generis, durch die der Papst Kritik an vermeintlichen Irrtümern der zeitgenössischen Theologie übte.
Eines der vielen Themen von Humani generis stellt der katholische Umgang mit der Evolutionsbiologie dar. Die Enzyklika lehrt, dass die These, die Existenz der Arten verdanke sich einem evolutionären Prozess, keinesfalls als gesichert betrachtet werden könne. Die Offenbarung rate in der Übernahme der Evolutionstheorie vielmehr zur Vorsicht. Gleichwohl verbietet es das Lehramt nicht grundsätzlich, dass die Evolutionstheorie als eine «Meinung» für wahr gehalten werde, allerdings nur mit Einschränkungen. «Alle», also Naturwissenschaftler wie Theologen, müssten sich bei der Frage nach der Zulässigkeit und den Grenzen der Evolutionstheorie dem Urteil der Kirche unterwerfen (vgl. DH 3896). Pius XII. legte der Evolutionsbiologie zwei Eckdaten vor, die sich seiner Auffassung nach unzweifelhaft aus dem katholischen Glauben ergeben: den Kreatianismus und den Monogenismus. Der Kreatianismus besagt, dass jede menschliche Seele unmittelbar von Gott geschaffen werde, die Seele also keine evolutionäre Geschichte haben könne. Der Monogenismus besteht darauf, dass Adam und Eva historische Persönlichkeiten gewesen seien und alle Menschen biologische Nachkommen dieses Urelternpaares darstellen. [...]
Lesen Sie den kompletten Artikel in der Printausgabe.
|
|
|
|
|
|
|
Unsere neue Dienstleistung für Verlage, die Ihr Abogeschäft in gute Hände geben wollen.
|

mehr
Informationen
|
 |
|
Bücher & mehr |
|
|