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Leseprobe 3 DOI: 10.14623/com.2023.5.513–516
Hans Maier
VERGISS DAS BÖSE!
Das Pactum Omissionis als Element des Friedensschlusses in der europäischen Geschichte
Vergessen als Pflicht, öffentlich verordnetes, von allen Seiten feierlich beschworenes Vergessen – das scheint gegenwärtig in höchstem Maß unzeitgemäß zu sein. Es ist jedenfalls nicht das, was uns beim Thema Kriegsende, Friedensschluss, Frieden zu allererst in den Sinn kommt. Eher liegt im Augenblick. wenn es um vergangene Schuld geht, das Gegenteil nahe, nämlich die Maxime: Nie und niemals vergessen! Der angesehene deutsche Politiker Hans-Jochen Vogel gründete 1993 sogar einen Verein «Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.» Er errichtete Gedenkstätten und kümmerte sich um Opfer im «Erinnerungsschatten», die sonst Gefahr liefen, vergessen zu werden.1

Dennoch gilt und muss in Erinnerung gerufen werden: Jahrhundertelang war die Pflicht zum Vergessen ein wichtiges, ja ein unentbehrliches Element des Friedensschlusses. Als Pactum Omissionis bildete diese Pflicht einen festen Bestandteil aller Friedensverträge. Mit dem Friedensschluss war zwingend eine perpetua oblivio et amnestia verbunden. Das «immerwährende Vergessen galt als Voraussetzung für einen wahren, sprich dauerhaften Frieden».2

Wie gesagt: Heute steht dem gegenüber die Aufarbeitung der im Krieg begangenen Verbrechen und die Überführung und Bestrafung der Schuldigen. Ob sich auf diesem Weg freilich ein beständiger Frieden ergibt, muss offenbleiben. Es ist bezeichnend, dass von 1945 bis zum heutigen Tag kaum noch Friedensverträge geschlossen wurden. Selbst der Zweite Weltkrieg wurde erst 1990, fast ein halbes Jahrhundert nach Kriegsende, durch einen technisch verfassten «Zwei plus Vier-Vertrag» (ohne einen Namen, selbst der Ortsname fehlt!) juristisch beendet.3 Offenbar ging mit dem Vergessen doch mehr verloren als nur ein Stück Erinnerung; offenbar setzen Friedensschlüsse voraus, dass der Krieg tatsächlich – und zwar (auch) durch Vergessen, durch «Amnestie und Oblivion» – beendet wurde.

Wohl in seiner feierlichsten Form liegt das Pactum Omissionis im Text des Westfälischen Friedens (1648) vor. Dort heißt es: «Es soll eine ewige Vergessenheit und Amnestie (perpetua oblivio et amnestia) alles Geschehenen bestehen; alles soll völlig aufgehoben (penitus abolitae) und in ewiger Vergessenheit begraben sein (perpetua ablivione sit sepultum)». Vergessen werden sollen «alles Unrecht, alle Feindschaften und Grausamkeiten vor und im Krieg, in Worten, Schriften und Taten».4 Ein immerwährendes Vergessen soll die naheliegende Versuchung zu Rache und Revision begraben, ja sie soll die Forderung nach Revision im Grunde gar nicht erst entstehen lassen. Beschuldigungen, Schuldzuweisungen, Gerichts- und Strafmaßnahmen, so die Konsequenz, finden fortan – und für ewige Zeiten! – nicht mehr statt.

Wird hier Unmögliches verlangt? Soll etwa Geschehenes ungeschehen gemacht werden? Keineswegs. Die neuzeitlichen Friedensverträge in Europa von Münster/Osnabrück (1648) bis Wien (1815) sind vielmehr durch ein Gegenüber geprägt, eine Balance von Erinnerung und Vergessen. Was vergessen werden soll, muss ja zunächst in Erfahrung gebracht, faktisch erhoben und nach Art und Umfang geklärt werden. Und das «immerwährende Vergessen», zu dem sich die Streitparteien verpflichten, ist kein einmaliger Akt, sondern ein laufender, oft Jahrzehnte dauernder Prozess.

Wann fand die Balance von Erinnerung und Vergessen ihr Ende? Wann drängte sich die Erinnerung, das Gedenken, das Nicht-Vergessen-Können so beherrschend in den Vordergrund, dass für «Amnestie und Oblivion» kein Platz mehr blieb? Es war wohl der Erste Weltkrieg, in dem dieser Umschwung eintrat.5 Dieser Krieg wies nicht nur schwerste Kriegsgräuel auf, ließ nicht nur einen tödlichen Vernichtungswillen auf beiden Seiten erkennen; er machte auch das Handeln der Kombattanten von Anfang an zum Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen. Das reichte weit über die schon früher vom Kriegsrecht gesetzten Grenzen hinaus.Was bisher wie ein Naturereignis hingenommen wurde – bezeichnend ist das Wort «Kriegsausbruch» – das wurde jetzt zu einer Verflechtung zurechenbarer menschlicher Handlungen – und damit zum Objekt von Anklagen, Verboten, Strafen, Verurteilungen.

Jetzt fragte man nach der Schuld am Krieg, nach der Verantwortung für die im Krieg geübten Verbrechen (der Begriff Kriegsverbrechen kam auf); und die Aufmerksamkeit galt nicht mehr dem Vergessen, schon gar nicht einer von oben verordneten «Oblivion», sie galt jetzt vielmehr dem Festhalten der Erinnerung, dem Aufarbeiten des Geschehenen, seiner Monumentalisierung zu etwas Absolutem, das sich schlechterdings nicht mehr vergeben und vergessen ließ.

Als Symbol für diese Transformation kann man die Szene sehen, in der Clémenceau die deutschen Verhandlungspartner 1919 zwang, am Verhandlungsort Versailles an einer Gruppe schwerbeschädigter französischer Soldaten mit zerstörten Gesichtern vorbeizugehen. Es war die Aufkündigung alles Vergessens – das betonte Sichtbarmachen einer niemals zu behebenden Schuld. Kein Wunder, dass sich an der später auch im Vertragstext fixierten Schuldzuweisung an die Deutschen für den Krieg in Deutschland ein Revisionismus entzündete, der alle demokratischen Parteien der Weimarer Republik miteinander verband, später aber auch den nationalsozialistischen Akteuren eine Steilvorlage bot. Und heute? Eindeutig sind nach dem Zweiten Weltkrieg alle Möglichkeiten des Vergessens de facto und de jure weiter verringert worden – und es existiert heute sogar, parallel zu der immer wieder neu eingeschärften Erinnerungs- und Gedenkpflicht, auf vielen Feldern ein förmliches Vergessensverbot.6 So dürfen vor allem der Holocaust, die Shoa, nicht vergessen werden und ebensowenig Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Hass- und Gewaltausbrüche, die sich in unserer heutigen Welt ereignen, wo immer es sei. Wir erleben gegenwärtig, wie die von Russland angegriffene Ukraine sorgfältig alle Kriegsverbrechen der Angreifer und Besatzer dokumentiert, um sie möglicherweise in günstigeren Zeiten vor den Internationalen Strafgerichthof zu bringen. Hier haben die Nürnberger Prozesse nach dem Zweiten Weltkrieg beispielgebend gewirkt, die den Angriffskrieg, den Verstoß gegen das Kriegs-verbot (Briand-Kellogg-Pakt) in die Mitte rückten und zum zentralen Thema machten.

Das heißt nicht, dass die alte Balance von Erinnern und Vergessen in der gegenwärtigen Welt ganz ohne Chancen wäre. Sieht man genauer zu, so entdeckt man ihre Spuren nicht nur in der deutschen «Aufarbeitung der Vergangenheit»7, sondern auch in der südafrikanischen «Wahrheits- und Versöhnungskommission», welche nach 1996 die politisch motivierten Verbrechen der Apartheid zu bewältigen hatte.8Ähnlich benannte Wahrheitskommissionen haben inzwischen weltweit Verbrechen vor allem in Bürgerkriegen aufzuarbeiten begonnen.9 Erinnert sei auch an das, was man inzwischen mit einem neutralen Ausdruck «Transitional Justice» nennt und was sich in der Gegenwart in vielen Formen ausprägt.Auch hier ist Versöhnung nicht ausgeschlossen – aber sie gründet sich nicht auf Vergessen und Vergeben, sondern entwickelt sich eher in dialogischen Formen unter Anlehnung an Mahatma Gandhi.

Neuerlich in den Mittelpunkt der Politik rücken wird das Vergessen wohl kaum – schon gar nicht in der feierlichen, fast sakralen Form, wie sie das Pactum Omissionis festhält. Doch im naturhaften Ablauf bleibt die Wirkung des Vergessens dennoch stark – stärker wohl als die, die dem Erinnern aus sich heraus gegeben ist. Vergessen wird leicht etwas, und wieviel Wichtiges ist schon im Lauf der Zeit vergessen worden! Vergessen geschieht von selbst, es muss nicht induziert werden. Dauerhaft festgehalten und ständig erinnert dagegen wird etwas wohl nur dann, wenn politische Anstrengung, zielbewusstes stetiges Pochen und Wiederholen dahinter steht.

So könnte sich das Verhältnis von Erinnern und Vergessen im Lauf der Zeit noch einmal wandeln. Ausschließen kann man eine solche Wandlung jedenfalls nicht. Und so muss man also bei den Stichworten Omissio und Oblivio nicht nur historisch zurückblicken; man darf auch auf künftige Entwicklungen gespannt sein.



Anmerkungen

1 Hans-Jochen Vogel (Hg.), Gegen Vergessen – Für Demokratie, mit Beiträgen von Eberhard Bethge, Hanna-Renate Laurien, Erich Loest, Richard Schröder und Hans-Jochen Vogel, München 1993.
2 Jörg Fisch, Krieg und Frieden im Friedensvertrag. Eine universalgeschichtliche Studie über Grundlagen und Formelemente des Friedensschlusses, Stuttgart 1979; Harald Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997.
3 Tim Geiger – Jürgen Lillteicher –Hermann Wentker (Hg.), Zwei plus Vier. Die internationale Gründungsgeschichte der Berliner Republik, Oldenburg 2021. 4 IPO (Westfälischer Frieden), Art. II. Zur Interpretation: Fisch, Krieg und Frieden (s. Anm. 2), 92 ff .;Weinrich, Lethe (s. Anm. 2), 217.
5 Klaus Hildebrand, Deutsche Außenpolitik 1871–1918, München 1989; stellt 53–58 dar, wie 1918 das Ringen um die Kriegsschuld anhebt, Akten zu Waffen werden und ein Dauerstreit der Historiker beginnt. Vgl. auch Michael Salewski, Der Erste Weltkrieg, Paderborn 2003, 216 ff, 323 ff .
6 Weinrich, Lethe (s. Anm. 2), 218, 298 ff .
7 Jürgen Habermas, Was bedeutet «Aufarbeitung der Vergangenheit» heute? In: Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine Politische Schriften VIII, 1995, 21–45; Bernhard Schlink, Die Bewältigung der Vergangenheit durch Recht, in: Leviathan Sonderheft 18/1998, 433–451.
8 Die südafrikanische Wahrheits- und Versöhnungskommission arbeitete von 1996 bis 1998, also verhältnismäßig kurz. Es galt, so schnell wie möglich die Verbrechen der Apartheid aufzuklären und Entschädigungen in Gang zu bringen.
9 Übersicht in : Dieter Stahl (Hg.) Quellen zur Geschichte der Menschenrechte, Bd. 1: Lebensgeschichtliche Interviews; Bd. 2: Kommentierte Schlüsseltexte, beide Göttingen 2021.

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